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Der Philosoph

Von der Philosophie gilt heute noch, was der alte W. T. Krug in seinem Lexikon von ihr sagte: "Es ist ein Ausdruck, über dessen Bedeutung die Philosophen selbst bis jetzt noch nicht einig sind." Vielleicht ließe sich die Schwierigkeit der Definition durch das Paradoxon hinausschieben: Es gibt keine Philosophie, wohl aber gibt es Philosophen. Bekanntlich ist das Wort Philosoph älter als das Wort Philosophie. Ein Weiser hieß in älterer Zeit, wer wußte, was irgend seine Zeitgenossen wußten. Dem Pythagoras wird von altersher die hübsche Erfindung des Wortes Philosoph zugesprochen. Er fand es unbescheiden, sich einen Weisen zu nennen, nur ein Freund der Weisheit, nur ein Strebender wollte er heißen, vielleicht schon mit dem tiefen Gefühl, das Lessing in seinem berühmten Worte vom Streben nach der Wahrheit geäußert hat. Ohne die Skepsis Voltaires, der einmal über Memnon lacht, der "conçut un jour le projet insensé d'être parfaitement sage."

Genug, es gab seit der Zeit des Pythagoras Menschen, welche Philosophen genannt wurden, nicht aber in dem Sinne, wie man heute noch Sonderlinge, Menschen, die nicht die gemeinen Zwecke verfolgen, halb spöttisch, halb achtungsvoll Philosophen nennt, sondern doch wohl so, daß man sie unphilosophisch als die Besitzer einer besonderen lehrbaren Wissenschaft betrachtete. Von den gemeinen Leuten wurde diese unbekannte Kenntnis der Philosophen Philosophie genannt, wenn nicht einzelne praktische Philosophen selbst ihre angeblich lehrbare Wissenschaft Philosophie genannt haben. Seit jener Zeit gibt es im Sprachgebrauche der abendländischen Völker eine angebliche Wissenschaft Philosophie, und von jeher haben nur wenige gewußt, daß diese vermeintliche Wissenschaft nur eine Tönung des Wissens ist. Faust ist ein Philosoph, nicht weil er neben Juristerei, Medizin und Theologie, ach! Philosophie durchaus studiert hat, sondern weil er sieht, daß wir nichts wissen können, und weil das ihm schier das Herz verbrennen will.

Die Geschichte der Philosophie lehrt, daß es wohl etwa alle hundert Jahre einmal einen Philosophen, daß es aber noch niemals eine Wissenschaft Philosophie gegeben habe. Der Unwissenheit gegenüber machen die philosophischen Disziplinen natürlich einen höchst wissenschaftlichen Eindruck; neben dem stolzen vermeintlichen Wissen ist jede Stimmung echter Philosophen das Bekenntnis zum Nichtwissen gewesen.

Gäbe es in und neben den lebendigen Philosophen und ihrer Wissensstimmung noch eine besondere lehr- und lernbare Wissenschaft Philosophie, so könnte diese Wissenschaft, da sie mit allen anderen Wissenschaften die Welt mitsamt dem Menschen zum Gegenstande und den Verstand zum Werkzeug hat, nichts anderes sein als die Gesamtheit der Wissenschaften. Die Philosophie im Kopfe des Philosophen würde dann etwa einem idealen Konversationslexikon entsprechen, einer wirklichen Enzyklopädie; nur daß jedes derartige Buch an dem Zufallsfaden des Alphabets aufgereiht werden muß und niemals eine in sich zurückkehrende Kreislinie bilden kann, nur daß auch im Kopfe eines Alleswissers die Kenntnisse ebenfalls an dem Zufallsfaden der Assoziationen aufgereiht wären und er wegen der Enge des Bewußtseins nicht mehr auf einmal in seinem Kopfe übersähe als im Buche.

Um die Philosophie als eine besondere Wissenschaft zu retten, hat man ihr bald bescheiden eine Mittelstellung zwischen Wissen und Religion angewiesen, bald sie weniger bescheiden als die Wissenschaft von den Wissenschaften aufgefaßt.

Die Vergleichung mit der Religion wäre so übel nicht, wenn man nur dabei bedächte, daß die Religion ihrem Wesen nach ein Glauben, d. h. ein Nichtwissen ist. Credo quia absurdum est. Das Wort des Kirchenvaters Tertullianus scheint mir viel geistreicher, als es von der Kirchengeschichte und vielleicht von Tertullianus selbst verstanden worden ist. Es gibt kein theologisches Wissen. Was absurd ist, kann man eben nicht wissen; will man überhaupt etwas mit dem Absurden anfangen, so muß man es eben glauben. Nach einem Worte Schopenhauers ist die Religion eine Wirkung des metaphysischen Bedürfnisses im Menschen. Man könnte sagen: Religion ist die Philosophie des dummen Kerls, Philosophie ist die Religion des Alleswissers.

Die andere Rettung der Philosophie, ihre Auffassung als Wissenschaft von den Wissenschaften wäre eigentlich nur für solche Alleswisser möglich, als deren letzter wohl Leibniz zu betrachten wäre, da Kant z. B. keine historischen Anlagen besaß. Wer bei dem heutigen breiten Betrieb aller wissenschaftlichen Disziplinen noch eine Wissenschaft von den Wissenschaften denken oder gar schreiben wollte, würde sich den spottwohlfeilen Vorwurf gefallen lassen müssen, daß er grundsätzlich Dilettant sei.

Fast ebenso wohlfeil ist dann die Ausflucht, eine Wissenschaft von den Wissenschaften ließe sich auch durch bloße Kenntnisnahme der obersten Ergebnisse aus allen Disziplinen herstellen. Denn immer steht der Philosoph vor dem Dilemma: gelangt er zu sicheren und lehrbaren obersten Prinzipien, so gehören sie der Wissenschaft an und zwar irgend einer anderen Wissenschaft als der sogenannten Philosophie; gelangt er aber nur zu Ahnungen, so ist kein Wissen vorhanden. Wäre das Dasein eines persönlichen Gottes bewiesen, so würde diese Tatsache in die Naturwissenschaft gehören. Wir neigen dazu, unter Philosophie die letzten Prinzipien oder vielmehr Resignationen der Erkenntnistheorie zu verstehen; das gehört dann als ein Teil der Logik in die Psychologie, welche doch eine Disziplin der Naturwissenschaft zu werden strebt; und wenn man jetzt bei diesen Untersuchungen den kühnen Gedanken einer Entwicklung der Sinne und darum des Verstandes zu Hilfe nimmt, so gehört das in demselben Sinne wie die Geologie zu den historischen Wissenschaften. Es ist nicht anders: die Geschichte bemüht sich, physiologisch zu werden, während die Physiologie als Entwicklungslehre historisch werden muß.