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Tiergedächtnis

Man hat endlos darüber gestritten, worin der Unterschied zwischen dem tierischen und menschlichen Denken bestehe. Und alle Psychologen, welche nicht gerade mit Descartes die Tiere für seelenlose Maschinen erklärten, sind schließlich, wie Katzen um den heißen Brei, um die Erklärung herumgegangen, es fehle den Tieren an Abstraktionsvermögen und infolgedessen an Begriffen. So einschneidend ist der Gegensatz nun freilich nicht; aber natürlich ist etwas Wahres an der Sache, wenn wir nur das mythische Abstraktionsvermögen, das doch wohl nur einer falschen Psychologie und einer falschen Übersetzung seine Wortexistenz verdankt, beiseite lassen und mit dem Begriffe "Begriff" unsere Kritik verbinden wollen. Für uns ist ja Begriff und Wort so gut wie identisch und ist nichts weiter als die Erinnerung oder die Bereitschaft einer Nervenbahn, einer ähnlichen Vorstellung zu dienen. Die geistige Inferiorität der Tiere besteht allein darin, daß sie unverhältnismäßig viel weniger Begriffe oder Worte oder Erinnerungszeichen für ähnliche Vorstellungen besitzen. Das wäre nun wieder nur eine "Abstraktion" aus Worten, wenn wir uns das Verhältnis nicht näher bringen könnten; und das ist schwer, weil wir eben mit unseren Menschenworten, mit unserem Menschendenken, mit unserem Menschengedächtnis unmöglich in die Geistestätigkeit der Tiere eindringen können. Wir müssen uns an äußere Beobachtungen halten.

Nehmen wir nun da z. B. das Gedächtnis des Hundes. Uns ist es doch offensichtlich, daß er Gedächtnis besitzt. Sein Gedächtnis ist freilich lange nicht so groß wie das des Menschen, aber sein kleiner Vorstellungsinhalt haftet fest und treu. Der Hund erkennt nach vielen Jahren noch seinen Herrn. Dieser Herr, den der Hund vielleicht am Geruch erkennt, ist aber kein richtiger Begriff; der individuelle Geruch seines Herrn ist kein prädikativer Begriff. Es scheint mir aber kein Zweifel daran möglich, daß der Hund auch Begriffe besitzt: sehen wir auch von den Nahrungsmitteln ab, so unterscheidet der Hund doch offenbar einen Menschen von anderen Dingen, eine Katze von anderen Tieren, es unterscheidet ein Jagdhund Rebhühner oder Hasen von anderem Wild. Angenommen nun auch, daß der Begriff Mensch, Katze, Rebhuhn sich an Geruchserinnerungen knüpfe, so ist doch ein deutlicher Begriff vorhanden. Es geht uns gar nichts an, welche Hilfe der Hundegeist gebrauche. Auch unsere Chemiker und unsere Köchinnen nehmen oft den Geruch zu Hilfe, um zu dem Begriffe Fäulnis oder Blausäure zu kommen und darauf ein wissenschaftliches Urteil zu begründen. Nun achte man aber einmal darauf, wie sich der Menschenbegriff des Hundes vom Menschenbegriff des Menschen unter dieser Voraussetzung unterscheiden muß. Der Hund hat eine Definition des Menschen, die ungefähr so lauten dürfte: Was so und so riecht, ist ein Mensch. Auch die Logik kommt bei dieser Definition und diesem Begriffe nicht zu kurz. So viel oder so wenig der Mensch schließt, schließt auch der Hund: alle Menschen riechen so und so, dieses Individuum hier riecht so und so, also ist dieses Individuum hier ein Mensch. Wir aber wissen vom Menschen so viel mehr. Wir kennen seine äußere Körpergestalt bis ins einzelne, wir kennen seine Anatomie, seine geistigen Fähigkeiten und seine Geschichte. Ich halte es für möglich, daß dem Hunde nicht einmal die äußere Erscheinung des Menschen zum Bewußtsein gekommen ist; der Hund weiß wahrscheinlich nicht einmal, daß der Mensch zwei Beine, zwei Augen, zwei Ohren und eine Nase hat. Er hat auf diese Umstände, die doch auch sein Auge wahrnimmt, nicht aufgemerkt, er hat sie sich nicht gemerkt. Das Gedächtnis des Hundes ist kleiner, und darum allein fehlt ihm in diesem Falle wie in allen anderen die Fülle von Vorstellungen und Erinnerungen, welche das Denken oder die Sprache des Menschen ausmacht. Es mag also das Denken oder die Sprache des Hundes im Verhältnis zum Menschendenken und zur Menschensprache um so viel ärmer sein, als sein Gedächtnis kleiner ist.

Es kommt aber noch etwas hinzu, was mir Licht auf die dunkelste Frage zu werfen scheint, mit welcher sich die Sprachphilosophie bisher vergebens geplagt hat. Zum Wesen der Sprache soll es ja gehören, daß sie nicht nur mit Hilfe ihrer Begriffe oder Worte Erinnerungen an einander ähnliche Vorstellungen festhält, sondern daß sie auch durch Mitteilung dieser Erinnerungszeichen in anderen ebenfalls die Erinnerung an dieselben einander ähnlichen Vorstellungen wecken kann. Kurz: der Mensch denkt nicht nur in Begriffen, sondern er spricht auch in ihnen. Kann nun der Hund den Begriff Mensch, den sein Geruch ihm vermittelt hat, mitteilen? Kann er sprechen?

Wir wissen darüber nichts Gewisses. Wir können uns auf unsere Menschenbeobachtungen nicht verlassen. Selbst die berühmte Artikulation der Menschensprache und die Vorstellung von "unartikulierten" Tierlauten kann eine bloße Selbsttäuschung der Menschen sein. Es ist oben erst darauf hingewiesen worden, daß wir die Differenzierung in den Zügen sehr fremder Völkerschaften nicht leicht wahrnehmen, daß wir Chinesen oder Neger schwer voneinander unterscheiden können, während sie einander ebensogut erkennen wie wir einander. Es ist ferner bekannt, daß uns die Laute ganz entlegener, sogenannter barbarischer Völker beim ersten Hören beinahe unartikuliert wie Vogelgezwitscher vorkommen. Um wie viel mehr müssen wir die noch tiefer stehenden Laute der Tiere für unartikuliert halten. Und wir werden später erfahren, daß die Tierlaute mit Unrecht unartikuliert genannt werden (II. 396). Es ist gut möglich, daß der Hund seinen Mithund besser versteht, daß der Mithund aus dem Bellen eines Hundes deutlich heraushört, ob das Bellen die Nähe eines Menschen, einer Katze, eines Rebhuhns u. s. w. anzeigt. Es ist möglich, aber es steht an Ausbildung jedenfalls tief unter der Menschensprache. Der Gegensatz liegt auf einem anderen Gebiete und ist so merkwürdig, daß es unverständlich scheint, wie er bisher der Aufmerksamkeit entgehen konnte.