Zum Hauptinhalt springen

Bewußtes Gedächtnis

Das Gedächtnis ist eine Tatsache des Bewußtseins und das Bewußtsein ist für uns nur als Gedächtnis eine Tatsache. Man könnte mit diesen Worten noch weiter jonglieren und würde doch nicht einmal in dem skeptischen Sinne der Sprachkritik zu einer festen Definition der beiden Begriffe gelangen. Wir ahnen jedoch, daß eine durch Selbstbeobachtung ermittelte Tatsache des Bewußtseins nicht das Abstraktum Gedächtnis ist, sondern nur die Reihe einzelner Erinnerungsbilder; wir ahnen, daß das Wort Bewußtsein eigentlich nichts anderes bedeutet als den Zusammenhang der Erinnerungsbilder.

Auch die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist für die Wissenschaft schlecht genug gewählt. Sagten wir aber dafür Erinnerungen oder Erinnerungsakte, so würde sich zwischen ihnen als irgend welche Tätigkeit und zwischen uns als forschende Zuschauer sofort irgend ein Faktor hineinschieben, den unsere Phantasie erfunden hätte, entweder ein Götze Gedächtnis, der die Erinnerungsakte vollzieht, oder sonst ein Ich, welches sich erinnert und welches doch wieder nur das Abstraktum Gedächtnis sein könnte. Die Bezeichnung Erinnerungsbilder ist nur insofern besser, als sie unsere scheinbare Passivität bei dem ganzen Vorgang metaphorisch auszudrücken scheint. Wir müssen jedoch festhalten, daß es sich dabei um eine Metapher handelt, daß wir theoretisch zwischen den unmittelbaren Bildern unserer Wahrnehmung und den mittelbaren unserer Erinnerung nicht genau unterscheiden können. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, die unmittelbaren und die mittelbaren Bilder als starke und schwache Wahrnehmungen, als Formen von starken und schwachen Reizen zu unterscheiden. Die Reizfrage wie überhaupt die physiologische Seite müssen wir als noch völlig unaufgeklärt ruhen lassen. Es kann uns jedoch die einfachste Besinnung lehren, daß Stärke oder Schwäche der Wahrnehmungen, ganz abgesehen von der Relativität dieser Begriffe, uns nicht weiter führt. Bei Halluzinationen nehmen Erinnerungsbilder die volle Stärke von unmittelbaren Wahrnehmungen an; und umgekehrt erkennen wir die leisesten und duftigsten Töne, wie beim Betrachten eines fernen im Nebel verschwindenden Gebirgszuges, als unmittelbare Wahrnehmungen an. Bei Gefühlen gar, wie z. B. beim Zorn, den der Feind meines Lebens in mir erregt, steht Stärke oder Schwäche in gar keinem Zusammenhang mit der Unmittelbarkeit. Die Zeit kann das Gefühl abschwächen, muß es aber nicht tun. Der Anblick des Feindes braucht meinen Zorn nicht so stark zu reizen, wie die Erinnerung an ihn. Das hängt sicherlich mit Lebenserscheinungen zusammen, welche neben dem Gehirngedächtnis hergehen; wie denn Gefühle des Hungers, der Liebe u. s. w. in starken oder leichten Graden schon durch das Gedächtnis erregt werden können. Wir erinnern uns nicht nur unseres Denkens, sondern auch unseres Lebens. Wir erinnern uns nicht nur unserer Wahrnehmungen und ihrer Verbindungen zu Begriffen, Urteilen und Schlüssen, wir erinnern uns — wir d. h. in unserem Bewußtsein — auch unserer Gefühle und unserer Bedürfnisse. Ist aber bei der Erinnerung just an unsere Bedürfnisse das Bewußtsein immer im Spiel? Es scheint mir gewiß, daß uns auch da wieder die Sprache im Stiche läßt. Die Vorstellung Hunger oder Liebe, d. h. die Erinnerung an die entsprechenden Begriffe oder Worte, wird sicherlich sehr oft hervorgerufen durch die natürlichen Bedürfnisse dieser Art, und zwar unabsichtlich, unbewußt; noch häufiger wird, das sollten Pädagogen sich merken, das unabweisbare Bedürfnis hervorgerufen durch die unbewußte Einübung der Befriedigung, also durch Erinnerung. Wer täglich dreimal z. B. zu essen gewohnt ist, wird täglich dreimal an das Bedürfnis erinnert, er hat täglich dreimal Hunger; wer täglich fünfmal zu essen gewohnt ist, hat täglich fünfmal Hunger. Und wer noch gar nicht zu essen gewohnt ist, wie das neugeborene Tier, der kann nur ein Unbehagen empfinden, aber nicht das differenzierte Gefühl des Hungers. Pädagogen mögen diese Lehren auf die Gefühle des Durstes und auf die der Geschlechtsliebe übertragen. Wir brauchen also gar nicht tiefer in die Welt der Organismen hinabzusteigen, um zu erkennen, daß das Gedächtnis ein viel weiter verbreiteter Zustand ist als das sogenannte Bewußtsein. Das Bewußtsein ist nur eine der vielen menschlichen Vorstellungsformen des Gedächtnisses. Wir haben also zu untersuchen, worin sich das Gedächtnis unseres sogenannten Selbstbewußtseins von dem unbewußten Gedächtnis jeder organisierten Materie, von dem unbewußten Gedächtnis, das auch den Tatsachen der Chemie und der Kristallisation zu Grunde liegen muß, unterscheiden mag.