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III. Villemain und Victor Cousin

Paris, 20. Juli 1843.

Jedes Volk hat seinen Nationalfehler, und wir Deutschen haben den unsrigen, nämlich jene berühmte Langsamkeit, wir wissen es sehr gut, wir haben Blei in den Stiefeln, sogar in den Pantoffeln. Aber was nützt den Franzosen alle Geschwindigkeit, all ihr flinkes, anstelliges Wesen, wenn sie ebenso schnell vergessen, was sie getan? Sie haben kein Gedächtnis, und das ist ihr größtes Unglück. Die Frucht jeder Tat und jeder Untat geht hier verloren durch Vergeßlichkeit. Jeden Tag müssen sie den Kreislauf ihrer Geschichte wieder durchlaufen, ihr Leben wieder von vorne anfangen, ihre Kämpfe aufs neue durchkämpfen, und morgen hat der Sieger vergessen, daß er gesiegt hatte, und der Überwundene hat ebenso leichtsinnig seine Niederlage und ihre heilsamen Lehren vergessen. Wer hat im Julius 1830 die große Schlacht gewonnen? Wer hat sie verloren? Wenigstens in dem großen Hospital, wo, um mich eines Ausdrucks von Mignet zu bedienen, jede gestürzte Macht ihre Blessierten untergebracht hat, hätte man sich dessen erinnern sollen! Diese einzige Bemerkung erlauben wir uns in Beziehung auf die Debatten, die in der Pairskammer über den Sekundärunterricht stattgefunden und wo die klerikale Partei nur scheinbar unterlag. In der Tat triumphierte sie, und es war schon ein hinlänglicher Triumph, daß sie als organisierte Partei ans Tageslicht trat. Wir sind weit entfernt, dieses kühne Auftreten zu tadeln, und es mißfällt uns weit weniger als jene schlottrige Halbheit, welche die Gegner sich zuschulden kommen ließen. Wie kläglich zeigte sich hier Herr Villemain, der kleine Rhetor, der windige Bel-Esprit, dieser abgestandene Voltairianer, der sich ein bißchen an den Kirchenvätern gerieben, um einen gewissen ernsthaften Anstrich zu gewinnen, und der von einer Unwissenheit beseelt war, die ans Erhabene grenzte! Es ist mir unbegreiflich, daß ihm Herr Guizot nicht auf der Stelle den Laufpaß gegeben, denn diesem großen Gelehrten mußte jene schülerhafte Verlegenheit, jener Mangel an den dürftigsten Vorkenntnissen, jene wissenschaftliche Nullität noch weit empfindlicher mißfallen als irgendein politischer Fehler! Um die Schwäche und Inhaltlosigkeit seines Kollegen einigermaßen zu decken, mußte Guizot mehrmals das Wort ergreifen; aber alles, was er sagte, war matt, farblos und unerquicklich. Er würde gewiß bessere Dinge vorgebracht haben, wenn er nicht Minister der auswärtigen Angelegenheiten, sondern Minister des Unterrichts gewesen wäre und für die besondern Interessen dieses Departements eine Lanze gebrochen hätte. Ja, er würde sich für die Gegenpartei noch weit gefährlicher erwiesen haben, wenn er ganz ohne weltliche Macht, nur mit seiner geistlichen Macht bewaffnet, wenn er als bloßer Professor für die Befugnisse der Philosophie in die Schranken getreten wäre! In einer solchen günstigern Lage war Victor Cousin, und ihm gebührt vorzugsweise die Ehre des Tages. Cousin ist nicht, wie jüngst ziemlich griesgrämig behauptet worden, ein philosophischer Dilettant, sondern er ist vielmehr ein großer Philosoph, er ist hier Haussohn der Philosophie, und als diese angegriffen wurde von ihren unversöhnlichsten Feinden, mußte unser Victor Cousin seine oratio pro domo halten. Und er sprach gut, ja vortrefflich, mit Überzeugung. Es ist für uns immer ein kostbares Schauspiel, wenn die friedliebendsten Männer, die durchaus von keiner Streitlust beseelt sind, durch die innern Bedingungen ihrer Existenz, durch die Macht der Ereignisse, durch ihre Geschichte, ihre Stellung, ihre Natur, kurz, durch eine unabweisliche Fatalität, gezwungen werden, zu kämpfen. Ein solcher Kämpfer, ein solcher Gladiator der Notwendigkeit war Cousin, als ein unphilosophischer Minister des Unterrichts die Interessen der Philosophie nicht zu verteidigen vermochte. Keiner wußte besser als Victor Cousin, daß es sich hier um keine neue Sache handelte, daß sein Wort wenig beitragen würde zur Schlichtung des alten Streits und daß da kein definitiver Sieg zu erwarten sei. Ein solches Bewußtsein übt immer einen dämpfenden Einfluß, und alles Brillantfeuer des Geistes konnte auch hier die innere Trauer über die Fruchtlosigkeit aller Anstrengungen keineswegs verbergen. Selbst bei den Gegnern haben Cousins Reden einen ehrenden Eindruck hervorgebracht, und die Feindschaft, die sie ihm widmen, ist ebenfalls eine Anerkennung. Den Villemain verachten sie, den Cousin aber fürchten sie. Sie fürchten ihn nicht wegen seiner Gesinnung, nicht wegen seines Charakters, nicht wegen seiner individuellen Vorzüge oder Fehler, sondern sie fürchten in ihm die deutsche Philosophie. Du lieber Himmel! man erzeigt hier unserer deutschen Philosophie und unserm Cousin allzu große Ehre. Obgleich letzterer ein geborner Dialektiker ist, obgleich er zugleich für Form die größte Begabnis besitzt, obgleich er bei seiner philosophischen Spezialität auch noch von großem Kunstsinn unterstützt wird, so ist er doch noch sehr weit davon entfernt, die deutsche Philosophie so gründlich tief in ihrem Wesen zu erfassen, daß er ihre Systeme in einer klaren, allgemein verständlichen Sprache formulieren könnte, wie es nötig wäre für Franzosen, die nicht wie wir die Geduld besitzen, ein abstraktes Idiom zu studieren. Was sich aber nicht in gutem Französisch sagen läßt, ist nicht gefährlich für Frankreich. Die Sektion der sciences morales et politiques der französischen Akademie hat bekanntlich eine Darstellung der deutschen Philosophie seit Kant zu einer Preisfrage gewählt, und Cousin, der hier als Hauptdirigent zu betrachten ist, suchte vielleicht fremde Kräfte, wo seine eignen nicht ausreichten. Aber auch andere haben die Aufgabe nicht gelöst, und in der jüngsten feierlichen Sitzung der Akademie ward uns angekündigt, daß auch dies Jahr keine Preisschrift über die deutsche Philosophie gekrönt werden könne.