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Musikalische Saison von 1844

Erster Bericht.
Berlioz, Mendelssohn, Hiller, Liszt, Döhler, Halle, Schad

Paris, 25. April 1844.

A tout seigneur tout honneur. Wir beginnen heute mit Berlioz, dessen erstes Konzert die musikalische Saison eröffnete und gleichsam als Ouvertüre derselben zu betrachten war. Die mehr oder minder neuen Stücke, die hier dem Publikum vorgetragen wurden, fanden den gebührenden Applaus, und selbst die trägsten Gemüter wurden fortgerissen von der Gewalt des Genius, der sich in allen Schöpfungen des großen Meisters bekundet. Hier ist ein Flügelschlag, der keinen gewöhnlichen Sangesvogel verrät, das ist eine kolossale Nachtigall, ein Sprosser von Adlersgröße, wie es deren in der Urwelt gegeben haben soll. Ja, die Berliozische Musik überhaupt hat für mich etwas Urweltliches, wo nicht gar Antediluvianisches, und sie mahnt mich an untergegangene Tiergattungen, an fabelhafte Königstümer und Sünden, an aufgetürmte Unmöglichkeiten, an Babylon, an die hängenden Gärten der Semiramis, an Ninive, an die Wunderwerke von Mizraim, wie wir dergleichen erblicken auf den Gemälden des Engländers Martin. In der Tat, wenn wir uns nach einer Analogie in der Malerkunst umsehen, so finden wir die wahlverwandteste Ähnlichkeit zwischen Berlioz und dem tollen Briten: derselbe Sinn für das Ungeheuerliche, für das Riesenhafte, für materielle Unermeßlichkeit. Bei dem einen die grellen Schatten- und Lichteffekte, bei dem andern kreischende Instrumentierung; bei dem einen wenig Melodie, bei dem andern wenig Farbe, bei beiden wenig Schönheit und gar kein Gemüt. Ihre Werke sind weder antik noch romantisch, sie erinnern weder an Griechenland noch an das katholische Mittelalter, sondern sie mahnen weit höher hinauf an die assyrisch-babylonisch-ägyptische Architekturperiode und an die massenhafte Passion, die sich darin aussprach.

Welch ein ordentlicher moderner Mensch ist dagegen unser Felix Mendelssohn-Bartholdy, der hochgefeierte Landsmann, den wir heute zunächst wegen der Symphonie erwähnen, die im Konzertsaale des Conservatoires von ihm gegeben worden. Dem tätigen Eifer seiner hiesigen Freunde und Gönner verdanken wir diesen Genuß. Obgleich diese Symphonie Mendelssohns im Conservatoire sehr frostig aufgenommen wurde, verdient sie dennoch die Anerkennung aller wahrhaft Kunstverständigen. Sie ist von echter Schönheit und gehört zu Mendelssohns besten Arbeiten. Wie aber kommt es, daß dem so verdienten und hochbegabten Künstler, seit der Aufführung des „Paulus“, den man dem hiesigen Publikum auferlegte, dennoch kein Lorbeerkranz auf französischem Boden hervorblühen will? Wie kommt es, daß hier alle Bemühungen scheitern und daß das letzte Verzweiflungsmittel des Odéontheaters, die Aufführung der Chöre zur „Antigone“, ebenfalls nur ein klägliches Resultat hervorbrachte? Mendelssohn bietet uns immer Gelegenheit, über die höchsten Probleme der Ästhetik nachzudenken. Namentlich werden wir bei ihm immer an die große Frage erinnert: Was ist der Unterschied zwischen Kunst und Lüge? Wir bewundern bei diesem Meister zumeist sein großes Talent für Form, für Stilistik, seine Begabnis, sich das Außerordentlichste anzueignen, seine reizend schöne Faktur, sein feines Eidechsenohr, seine zarten Fühlhörner und seine ernsthafte, ich möchte fast sagen passionierte Indifferenz. Suchen wir in einer Schwesterkunst nach einer analogen Erscheinung, so finden wir sie diesmal in der Dichtkunst, und sie heißt Ludwig Tieck. Auch dieser Meister wußte immer das Vorzüglichste zu reproduzieren, sei es schreibend oder vorlesend, er verstand sogar das Naive zu machen, und er hat doch nie etwas geschaffen, was die Menge bezwang und lebendig blieb in ihrem Herzen. Dem begabteren Mendelssohn würde es schon eher gelingen, etwas ewig Bleibendes zu schaffen, aber nicht auf dem Boden, wo zunächst Wahrheit und Leidenschaft verlangt wird, nämlich auf der Bühne; auch Ludwig Tieck, trotz seinem hitzigsten Gelüste, konnte es nie zu einer dramatischen Leistung bringen.

Außer der Mendelssohnschen Symphonie hörten wir im Conservatoire mit großem Interesse eine Symphonie des seligen Mozart und eine nicht minder talentvolle Komposition von Händel. Sie wurden mit großem Beifall aufgenommen.

Unser vortrefflicher Landsmann Ferdinand Hiller genießt unter den wahrhaft Kunstverständigen ein zu großes Ansehen, als daß wir nicht, so groß auch die Namen sind, die wir eben genannt, den seinigen hier unter den Komponisten erwähnen dürften, deren Arbeiten im Conservatoire die verdiente Anerkennung fanden. Hiller ist mehr ein denkender als ein fühlender Musiker, und man wirft ihm noch obendrein eine zu große Gelehrsamkeit vor. Geist und Wissenschaft mögen wohl manchmal in den Kompositionen dieses Doktrinärs etwas kühlend wirken, jedenfalls aber sind sie immer anmutig, reizend und schön. Von schiefmäuliger Exzentrizität ist hier keine Spur, Hiller besitzt eine artistische Wahlverwandtschaft mit seinem Landsmann Wolfgang Goethe. Auch Hiller ward geboren zu Frankfurt, wo ich, bei meiner letzten Durchreise, sein väterliches Haus sah; es ist genannt „Zum grünen Frosch“, und das Abbild eines Frosches ist über der Haustüre zu sehen. Hillers Kompositionen erinnern aber nie an solch unmusikalische Bestie, sondern nur an Nachtigallen, Lerchen und sonstiges Frühlingsgevögel.

An konzertgebenden Pianisten hat es auch dieses Jahr nicht gefehlt. Namentlich die Iden des Märzen waren in dieser Beziehung sehr bedenkliche Tage. Das alles klimpert drauflos und will gehört sein, und sei es auch nur zum Schein, um jenseits der Barriere von Paris sich als große Zelebrität gebärden zu dürfen. Den erbettelten oder erschlichenen Fetzen Feuilletonlob wissen die Kunstjünger, zumal in Deutschland, gehörig auszubeuten, und in den dortigen Reklamen heißt es dann, das berühmte Genie, der große Rudolf W., sei angekommen, der Nebenbuhler von Liszt und Thalberg, der Klavierheros, der in Paris so großes Aufsehen erregt habe und sogar von dem Kritiker Jules Janin gelobt worden, Hosianna! Wer nun eine solche arme Fliege zufällig in Paris gesehen hat und überhaupt weiß, wie wenig hier von noch weit bedeutendern Personagen Notiz genommen wird, findet die Leichtgläubigkeit des Publikums sehr ergötzlich und die plumpe Unverschämtheit der Virtuosen sehr ekelhaft. Das Gebrechen aber liegt tiefer, nämlich in dem Zustand unsrer Tagespresse, und dieser ist wieder nur ein Ergebnis fatalerer Zustände. Ich muß immer darauf zurückkommen, daß es nur drei Pianisten gibt, die eine ernste Beachtung verdienen, nämlich: Chopin, der holdselige Tondichter, der aber leider auch diesen Winter sehr krank und wenig sichtbar war; dann Thalberg, der musikalische Gentleman, der am Ende gar nicht nötig hätte, Klavier zu spielen, um überall als eine schöne Erscheinung begrüßt zu werden, und der sein Talent auch wirklich nur als eine Apanage zu betrachten scheint; und dann unser Liszt, der trotz aller Verkehrtheiten und verletzenden Ecken dennoch unser teurer Liszt bleibt und in diesem Augenblick wieder die schöne Welt von Paris in Aufregung gesetzt. Ja, er ist hier, der große Agitator, unser Franz Liszt, der irrende Ritter aller möglichen Orden (mit Ausnahme der französischen Ehrenlegion, die Ludwig Philipp keinem Virtuosen geben will); er ist hier, der hohenzollern-hechingensche Hofrat, der Doktor der Philosophie und Wunderdoktor der Musik, der wiederauferstandene Rattenfänger von Hameln, der neue Faust, dem immer ein Pudel in der Gestalt Bellonis folgt, der geadelte und dennoch edle Franz Liszt! Er ist hier, der moderne Amphion, der mit den Tönen seines Saitenspiels beim Kölner Dombau die Steine in Bewegung setzte, daß sie sich zusammenfügten, wie einst die Mauern von Theben! Er ist hier, der moderne Homer, den Deutschland, Ungarn und Frankreich, die drei größten Länder, als Landeskind reklamieren, während der Sänger der „Ilias“ nur von sieben kleinen Provinzialstädten in Anspruch genommen ward! Er ist hier, der Attila, die Geißel Gottes aller Érardschen Pianos, die schon bei der Nachricht seines Kommens erzitterten und die nun wieder unter seiner Hand zucken, bluten und wimmern, daß die Tierquälergesellschaft sich ihrer annehmen sollte! Er ist hier, das tolle, schöne, häßliche, rätselhafte, fatale und mitunter sehr kindische Kind seiner Zeit, der gigantische Zwerg, der rasende Roland mit dem ungarischen Ehrensäbel, der geniale Hans Narr, dessen Wahnsinn uns selber den Sinn verwirrt und dem wir in jedem Fall den loyalen Dienst erweisen, daß wir die große Furore, die er hier erregt, zur öffentlichen Kunde bringen. Wir konstatieren unumwunden die Tatsache des ungeheuern Sukzeß; wie wir diese Tatsache nach unserm Privatbedünken ausdeuten und ob wir überhaupt unsern Privatbeifall dem gefeierten Virtuosen zollen oder versagen, mag demselben gewiß gleichgültig sein, da unsre Stimme nur die eines einzelnen und unsre Autorität in der Tonkunst nicht von sonderlicher Bedeutung ist.

Wenn ich früherhin von dem Schwindel hörte, der in Deutschland und namentlich in Berlin ausbrach, als sich Liszt dort zeigte, zuckte ich mitleidig die Achsel und dachte: Das stille sabbatliche Deutschland will die Gelegenheit nicht versäumen, um sich ein bißchen erlaubte Bewegung zu machen, es will die schlaftrunkenen Glieder ein wenig rütteln, und meine Abderiten an der Spree kitzeln sich gern in einen gegebenen Enthusiasmus hinein, und einer deklamiert dem andern nach: „Amor, Beherrscher der Menschen und der Götter!“ Es ist ihnen, dacht ich, bei dem Spektakel um den Spektakel selbst zu tun, um den Spektakel an sich, gleichviel, wie dessen Veranlassung heiße, Georg Herwegh, Franz Liszt oder Fanny Elßler; wird Herwegh verboten, so hält man sich an Liszt, der unverfänglich und unkompromittierend. So dachte ich, so erklärte ich mir die Lisztomanie, und ich nahm sie für ein Merkmal des politisch unfreien Zustandes jenseits des Rheines. Aber ich habe mich doch geirrt, und das merkte ich vorige Woche im italienischen Opernhaus, wo Liszt sein erstes Konzert gab, und zwar vor einer Versammlung, die man wohl die Blüte der hiesigen Gesellschaft nennen konnte. Jedenfalls waren es wachende Pariser, Menschen, die mit den höchsten Erscheinungen der Gegenwart vertraut, die mehr oder minder lange mitgelebt hatten das große Drama der Zeit, darunter so viele Invaliden aller Kunstgenüsse, die müdesten Männer der Tat, Frauen, die ebenfalls sehr müde, indem sie den ganzen Winter hindurch die Polka getanzt, eine Unzahl beschäftigter und blasierter Gemüter – das war wahrlich kein deutsch-sentimentales, berlinisch anempfindelndes Publikum, vor welchem Liszt spielte, ganz allein, oder vielmehr nur begleitet von seinem Genius. Und dennoch, wie gewaltig, wie erschütternd wirkte schon seine bloße Erscheinung! Wie ungestüm war der Beifall, der ihm entgegenklatschte! Auch Buketts wurden ihm zu Füßen geworfen! Es war ein erhabener Anblick, wie der Triumphator mit Seelenruhe die Blumensträuße auf sich regnen ließ und endlich, graziöse lächelnd, eine rote Kamelia, die er aus einem solchen Bukett hervorzog, an seine Brust steckte. Und dieses tat er in Gegenwart einiger jungen Soldaten, die eben aus Afrika gekommen, wo sie keine Blumen, sondern bleierne Kugeln auf sich regnen sahen und ihre Brust mit den roten Kamelias des eignen Heldenbluts geziert ward, ohne daß man hier oder dort davon besonders Notiz nahm! Sonderbar! dachte ich, diese Pariser, die den Napoleon gesehen, der eine Schlacht nach der andern liefern mußte, um ihre Aufmerksamkeit zu fesseln, diese jubeln jetzt unserm Franz Liszt! Und welcher Jubel! Eine wahre Verrücktheit, wie sie unerhört in den Annalen der Furore! Was ist aber der Grund dieser Erscheinung? Die Lösung der Frage gehört vielleicht eher in die Pathologie als in die Ästhetik. Ein Arzt, dessen Spezialität weibliche Krankheiten sind und den ich über den Zauber befragte, den unser Liszt auf sein Publikum ausübt, lächelte äußerst sonderbar und sprach dabei allerlei von Magnetismus, Galvanismus, Elektrizität, von der Kontagion in einem schwülen, mit unzähligen Wachskerzen und einigen hundert parfümierten und schwitzenden Menschen angefüllten Saale, von Histrionalepilepsis, von dem Phänomen des Kitzelns, von musikalischen Kanthariden und andern skabrosen Dingen, welche, glaub ich, Bezug haben auf die Mysterien der Bona Dea. Vielleicht aber liegt die Lösung der Frage nicht so abenteuerlich tief, sondern auf einer sehr prosaischen Oberfläche. Es will mich manchmal bedünken, die ganze Hexerei ließe sich dadurch erklären, daß niemand auf dieser Welt seine Sukzesse oder vielmehr die mise en scène derselben so gut zu organisieren weiß wie unser Franz Liszt. In dieser Kunst ist er ein Genie, ein Philadelphia, ein Bosco, ja ein Meyerbeer. Die vornehmsten Personen dienen ihm als Compères, und seine Mietenthusiasten sind musterhaft dressiert. Knallende Champagnerflaschen und der Ruf von verschwenderischer Freigebigkeit, ausposaunt durch die glaubwürdigsten Journale, lockt Rekruten in jeder Stadt. Nichtsdestoweniger mag es der Fall sein, daß unser Franz Liszt wirklich von Natur sehr spendabel und frei wäre von Geldgeiz, einem schäbigen Laster, das so vielen Virtuosen anklebt, namentlich den Italienern, und das wir sogar bei dem flötensüßen Rubini finden, von dessen Filz eine in jeder Beziehung sehr spaßhafte Anekdote erzählt wird. Der berühmte Sänger hatte nämlich in Verbindung mit Franz Liszt eine Kunstreise auf gemeinschaftliche Kosten unternommen, und der Profit der Konzerte, die man in verschiedenen Städten geben wollte, sollte geteilt werden. Der große Pianist, der überall den Generalintendanten seiner Berühmtheit, den schon erwähnten Signor Belloni, mit sich herumfahrt, übertrug demselben bei dieser Gelegenheit alles Geschäftliche. Als der Signor Belloni aber nach beendigter Geschäftsführung seine Rechnung eingab, bemerkte Rubini mit Entsetzen, daß unter den gemeinsamen Ausgaben auch eine bedeutende Summe für Lorbeerkränze, Blumenbuketts, Lobgedichte und sonstige Ovationskosten angesetzt war. Der naive Sänger hatte sich eingebildet, daß man ihm seiner schönen Stimme wegen solche Beifallszeichen zugeschmissen, er geriet jetzt in großen Zorn und wollte durchaus nicht die Buketts bezahlen, worin sich vielleicht die kostbarsten Kamelias befanden. Wär ich ein Musiker, dieser Zwist böte mir das beste Sujet einer komischen Oper.

Aber ach! laßt uns die Huldigungen, welche die berühmten Virtuosen einernten, nicht allzu genau untersuchen. Ist doch der Tag ihrer eitlen Berühmtheit sehr kurz, und die Stunde schlägt bald, wo der Titane der Tonkunst vielleicht zu einem Stadtmusikus von sehr untergesetzter Statur zusammenschrumpft, der in seinem Kaffeehause den Stammgästen erzählt und auf seine Ehre versichert, wie man ihm einst Blumenbuketts mit den schönsten Kamelias zugeschleudert und wie sogar einmal zwei ungarische Gräfinnen, um sein Schnupftuch zu erhaschen, sich selbst zur Erde geschmissen und blutig gerauft haben! Die Eintagsreputation der Virtuosen verdünstet und verhallt, öde, spurlos, wie der Wind eines Kameles in der Wüste.

Der Übergang vom Löwen zum Kaninchen ist etwas schroff. Dennoch darf ich hier jene zahmeren Klavierspieler nicht unbeachtet lassen, die in der diesjährigen Saison sich ausgezeichnet. Wir können nicht alle große Propheten sein, und es muß auch kleine Propheten geben, wovon zwölf auf ein Dutzend gehen. Als den größten unter den Kleinen nennen wir hier Theodor Döhler. Sein Spiel ist nett, hübsch, artig, empfindsam, und er hat eine ganz eigentümliche Manier, mit der waagerecht ausgestreckten Hand bloß durch die gebogenen Fingerspitzen die Tasten anzuschlagen. Nach Döhler verdient Halle unter den kleinen Propheten eine besondere Erwähnung; er ist ein Habakuk von ebenso bescheidenem wie wahrem Verdienst. Ich kann nicht umhin, hier auch des Herrn Schad zu erwähnen, der unter den Klavierspielern vielleicht denselben Rang einnimmt, den wir dem Jonas unter den Propheten einräumen; möge ihn nie ein Walfisch verschlucken!

Als gewissenhafter Berichterstatter, der nicht bloß von neuen Opern und Konzerten, sondern auch von allen andern Katastrophen der musikalischen Welt zu berichten hat, muß ich auch von den vielen Verheiratungen reden, die darin zum Ausbruch gekommen oder auszubrechen drohen. Ich rede von wirklichen, lebenslänglichen, höchst anständigen Heiraten, nicht von dem wilden Ehedilettantismus, der des Maires mit der dreifarbigen Schärpe und des Segens der Kirche entbehrt. Chacun sucht jetzt seine Chacune. Die Herrn Künstler tänzeln einher auf Freiersfüßen und trällern Hymenäen. Die Violine verschwägert sich mit der Flöte; die Hornmusik wird nicht ausbleiben. Einer der drei berühmtesten Pianisten vermählte sich unlängst mit der Tochter des in jeder Hinsicht größten Bassisten der Italienischen Oper; die Dame ist schön, anmutig und geistreich. Vor einigen Tagen erfuhren wir, daß noch ein anderer ausgezeichneter Pianist aus Warschau in den heiligen Ehestand trete, daß auch er sich hinauswage auf jenes hohe Meer, für welches noch kein Kompaß erfunden worden. Immerhin, kühner Segler, stoß ab vom Lande, und möge kein Sturm dein Ruder brechen! Jetzt heißt es sogar, daß der größte Violinist, den Breslau nach Paris geschickt, sich hier verheiratet, daß auch dieser Fiedelkundige seines ruhigen Junggesellentums überdrüssig geworden und das furchtbare, unbekannte Jenseits versuchen wolle. Wir leben in einer heldenmütigen Periode. Dieser Tage verlobte sich ein ebenfalls berühmter Virtuos. Er hat wie Theseus eine schöne Ariadne gefunden, die ihn durch das Labyrinth dieses Lebens leiten wird; an einem Garnknäuel fehlt es ihr nicht, denn sie ist eine Nähterin.

Die Violinisten sind in Amerika, und wir erhielten die ergötzlichsten Nachrichten über die Triumphzüge von Ole Bull, dem Lafayette des Puffs, dem Reklamenheld beider Welten. Der Entrepreneur seiner Sukzesse ließ ihn zu Philadelphia arretieren, um ihn zu zwingen, die in Rechnung gestellten Ovationskosten zu berichtigen. Der Gefeierte zahlte, und man kann jetzt nicht mehr sagen, daß der blonde Normanne, der geniale Geiger, seinen Ruhm jemandem schuldig sei. Hier in Paris hörten wir unterdessen den Sivori; Porzia würde sagen: „Da ihn der liebe Gott für einen Mann ausgibt, so will ich ihn dafür nehmen.“ Ein andermal überwinde ich vielleicht mein Mißbehagen, um über dieses geigende Brechpulver zu referieren. Alexander Batta hat auch dieses Jahr ein schönes Konzert gegeben; er weint noch immer auf dem großen Violoncello seine kleinen Kindertränen. Bei dieser Gelegenheit könnte ich auch Herrn Semmelmann loben; er hat es nötig.

Ernst war hier. Der wollte aber aus Laune kein Konzert geben; er gefällt sich darin, bloß bei Freunden zu spielen. Dieser Künstler wird hier geliebt und geachtet. Er verdient es. Er ist der wahre Nachfolger Paganinis, er erbte die bezaubernde Geige, womit der Genueser die Steine, ja sogar die Klötze zu rühren wußte. Paganini, der uns mit leisem Bogenstrich jetzt zu den sonnigsten Höhen führte, jetzt in grauenvolle Tiefen blicken ließ, besaß freilich eine weit dämonischere Kraft; aber seine Schatten und Lichter waren mitunter zu grell, die Kontraste zu schneidend, und seine grandiosesten Naturlaute mußten oft als künstlerische Mißgriffe betrachtet werden. Ernst ist harmonischer, und die weichen Tinten sind bei ihm vorherrschend. Dennoch hat er eine Vorliebe für das Phantastische, auch für das Barocke, wo nicht gar für das Skurrile, und viele seiner Kompositionen erinnern mich immer an die Märchenkomödien des Gozzi, an die abenteuerlichsten Maskenspiele, an „Venezianischen Karneval“. Das Musikstück, das unter diesem Namen bekannt ist und unverschämterweise von Sivori gekapert ward, ist ein allerliebstes Capriccio von Ernst. Dieser Liebhaber des Phantastischen kann, wenn er will, auch rein poetisch sein, und ich habe jüngst eine Nocturne von ihm gehört, die wie aufgelöst war in Schönheit. Man glaubte sich entrückt in eine italienische Mondnacht, mit stillen Zypressenalleen, schimmernd weißen Statuen und träumerisch plätschernden Springbrunnen. Ernst hat, wie bekannt ist, in Hannover seine Entlassung genommen und ist nicht mehr königlich hannoverscher Konzertmeister. Das war auch kein passender Platz für ihn. Er wäre weit eher geeignet, am Hofe irgendeiner Feenkönigin, wie z.B. der Frau Morgane, die Kammermusik zu leiten; hier fände er ein Auditorium, das ihn am besten verstünde, und darunter manche hohe Herrschaften, die ebenso kunstsinnig wie fabelhaft, z.B. den König Artus, Dietrich von Bern, Ogier den Dänen u.a. Und welche Damen würden ihm hier applaudieren! Die blonden Hannoveranerinnen mögen gewiß hübsch sein, aber sie sind doch nur Heidschnucken in Vergleichung mit einer Fee Melior, mit der Dame Abonde, mit der Königin Genoveva, der schönen Melusine und andern berühmten Frauenspersonen, die sich am Hofe der Königin Morgane in Avalun aufhalten. An diesem Hofe (an keinem andern) hoffen wir einst dem vortrefflichen Künstler zu begegnen, denn auch uns hat man dort eine vorteilhafte Anstellung versprochen.