Aus den Pyrenäen
I. Landschaftsbild von Barèges
Barèges, 26. Juli 1846.
Seit Menschengedenken gab es kein solches Zuströmen nach den Heilquellen von Barèges wie dieses Jahr. Das kleine Dorf, das aus etwa sechzig Häusern und einigen Dutzend Notbaracken besteht, kann die kranke Menge nicht mehr fassen; Spätkömmlinge fanden kaum ein kümmerliches Obdach für eine Nacht und mußten leidend umkehren. Die meisten Gäste sind französische Militärs, die in Afrika sehr viele Lorbeeren, Lanzenstiche und Rheumatismen eingeerntet haben. Einige alte Offiziere aus der Kaiserzeit keuchen hier ebenfalls umher und suchen in der Badewanne die glorreichen Erinnerungen zu vergessen, die sie bei jedem Witterungswechsel so verdrießlich jucken. Auch ein deutscher Dichter befindet sich hier, der manches auszubaden haben mag, aber bis jetzt keineswegs seines Verstandes verlustig und noch viel weniger in ein Irrenhaus eingesperrt worden ist, wie ein Berliner Korrespondent in der hochlöblichen „Leipziger Allgemeinen Zeitung“ berichtet hat. Freilich, wir können uns irren, Heinrich Heine ist vielleicht verrückter, als er selbst weiß; aber mit Gewißheit dürfen wir versichern, daß man ihn hier, in dem anarchischen Frankreich, noch immer auf freien Füßen herumgehen läßt, was ihm wahrscheinlich zu Berlin, wo die geistige Sanitätspolizei strenger gehandhabt wird, nicht gestattet werden möchte. Wie dem auch sei, fromme Gemüter an der Spree mögen sich trösten, wenn auch nicht der Geist, so ist doch der Leib des Dichters hinlänglich belastet von lähmenden Gebresten, und auf der Reise von Paris hierher ward sein Siechtum so unleidlich, daß er unfern von Bagnères-de-Bigorre den Wagen verlassen und sich auf einem Lehnsessel über das Gebirge tragen lassen mußte. Er hatte bei dieser erhabenen Fahrt manche erfreuliche Lichtblicke, nie hat ihn Sonnenglanz und Waldgrün inniger bezaubert, und die großen Felsenkoppen, wie steinerne Riesenhäupter, sahen ihn an mit fabelhaftem Mitleid. Die Hautes Pyrénées sind wunderbar schön. Besonders seelenerquickend ist die Musik der Bergwasser, die wie ein volles Orchester in den rauschenden Talfluß, den sogenannten Gave, hinabstürzen. Gar lieblich ist dabei das Geklingel der Lämmerherden, zumal wenn sie in großer Anzahl wie jauchzend von den Bergeshalden heruntergesprungen kommen, voran die langwolligen Mutterschafe und dorisch gehörnten Widder, welche große Glocken an den Hälsen tragen, und nebenherlaufend der junge Hirt, der sie nach dem Taldorfe zur Schur führt und bei dieser Gelegenheit auch die Liebste besuchen will. Einige Tage später ist das Geklingel minder heiter, denn es hat unterdessen gewittert, aschgraue Nebelwolken hängen tief herab, und mit seinen geschornen, fröstelnd nackten Lämmern steigt der junge Hirt melancholisch wieder hinauf in seine Alpeneinsamkeit; er ist ganz eingewickelt in seinen braunen, reichgeflickten Baskesenmantel, und das Scheiden von ihr war vielleicht bitter.
Ein solcher Anblick mahnt mich aufs lebhafteste an das Meisterwerk von Decamps, welches der diesjährige Salon besaß und das von so vielen, ja von dem kunstverständigsten Franzosen, Théophile Gautier, mit hartem Unrecht getadelt ward. Der Hirt auf jenem Gemälde, der in seiner zerlumpten Majestät wie ein wahrer Bettelkönig aussieht und an seiner Brust, unter den Fetzen des Mantels, ein armes Schäfchen vor dem Regenguß zu schützen sucht, die stumpfsinnig trüben Wetterwolken mit ihren feuchten Grimassen, der zottighäßliche Schäferhund – alles ist auf jenem Bilde so naturwahr, so pyrenäengetreu gemalt, so ganz ohne sentimentalen Anstrich und ohne süßliche Veridealisierung, daß einem hier das Talent des Decamps fast erschreckend, in seiner naivsten Nacktheit, offenbar wird.
Die Pyrenäen werden jetzt von vielen französischen Malern mit großem Glück ausgebeutet, besonders wegen der hiesigen pittoresken Volkstrachten, und die Leistungen von Leleux, die unser feintreffender Pfeilkollege immer so schön gewürdigt, verdienen das gespendete Lob; auch bei diesem Maler ist Wahrheit der Natur, aber ohne ihre Bescheidenheit, sie tritt schier allzu keck hervor, und sie artet aus in Virtuosität. Die Kleidung der Bergbewohner, der Bearnaisen, der Basken und der Grenzspanier, ist in der Tat so eigentümlich und staffeleifähig, wie es ein junger Enthusiast von der Pinselgilde, der den banalen Frack verabscheut, nur irgend verlangen kann; besonders pittoresk ist die Kopfbedeckung der Weiber, die scharlachrote, bis an die Hüften über den schwarzen Leibrock herabhängende Kapuze. Einen überaus köstlichen Anblick gewähren derartig kostümierte Ziegenhirtinnen, wenn sie, auf hochgesattelten Maultieren sitzend, den altertümlichen Spinnstock unterm Arm, mit ihren gehörnten schwarzen Zöglingen über die äußersten Spitzen der Berge einherreiten und der abenteuerliche Zug sich in den reinsten Konturen abzeichnet an dem sonnigblauen Himmelsgrund.
Das Gebäude, worin sich die Badeanstalt von Barèges befindet, bildet einen schauderhaften Kontrast mit den umgebenden Naturschönheiten, und sein mürrisches Äußere entspricht vollkommen den innern Räumen: unheimlich finstere Zellen, gleich Grabgewölben, mit gar zu schmalen steinernen Badewannen, einer Art provisorischer Särge, worin man alle Tage eine Stunde lang sich üben kann im Stilleliegen mit ausgestreckten Beinen und gekreuzten Armen, eine nützliche Vorübung für Lebensabiturienten. Das beklagenswerteste Gebrechen zu Barèges ist der Wassermangel; die Heilquellen strömen nämlich nicht in hinlänglicher Fülle. Eine traurige Abhülfe in dieser Beziehung gewähren die sogenannten Piszinen, ziemlich enge Wasserbehälter, worin sich ein Dutzend, auch wohl anderthalb Dutzend Menschen gleichzeitig baden, in aufrechter Stellung. Hier gibt es Berührungen, die selten angenehm sind, und bei dieser Gelegenheit begreift man in ihrem ganzen Tiefsinn die Worte des toleranten Ungars, der sich den Schnurrbart strich und zu seinem Kameraden sagte: „Mir ist ganz gleich, was der Mensch ist, ob er Christ oder Jude, republikanisch oder kaiserlich, Türke oder Preuße, wenn nur der Mensch gesund ist.“