II. Die Ultramontanen
Paris, 8. Juli 1843.
In China sind sogar die Kutscher höflich. Wenn sie in einer engen Straße mit ihren Fuhrwerken etwas hart aneinanderstoßen und Deichseln und Räder sich verwickeln, erheben sie keineswegs ein Schimpfen und Fluchen wie die Kutscher bei uns zulande, sondern sie steigen ruhig von ihrem Sitz herunter, machen eine Anzahl Knickse und Bücklinge, sagen sich diverse Schmeicheleien, bemühen sich hernach, gemeinschaftlich ihre Wagen in das gehörige Geleise zu bringen, und wenn alles wieder in Ordnung ist, machen sie nochmals verschiedene Bücklinge und Knickse, sagen sich ein respektives Lebewohl und fahren von dannen. Aber nicht bloß unsre Kutscher, sondern auch unsre Gelehrten sollten sich hieran ein Beispiel nehmen. Wenn diese Herren miteinander in Kollision geraten, machen sie sehr wenig Komplimente und suchen sich keineswegs hülfreich zu verständigen, sondern sie fluchen und schimpfen alsdann wie die Kutscher des Okzidents. Und dieses klägliche Schauspiel gewähren uns zumeist Theologen und Philosophen, obgleich erstere auf das Dogma der Demut und Barmherzigkeit besonders angewiesen sind und letztere in der Schule der Vernunft zunächst Geduld und Gelassenheit erlernt haben sollten. Die Fehde zwischen der Universität und den Ultramontanen hat diesen Frühling bereits mit einer Flora von Grobheiten und Schmähreden bereichert, die selbst auf unsern deutschen Mistbeeten nicht kostbarer gedeihen könnte. Das wuchert, das sproßt, das blüht in unerhörter Pracht. Wir haben weder Lust noch Beruf, hier zu botanisieren. Der Duft mancher Giftblumen könnte uns betäubend zu Kopf steigen und uns verhindern, mit kühler Unparteilichkeit den Wert beider Parteien und die politische Bedeutung und Bedeutsamkeit des Kampfes zu würdigen. Sobald die Leidenschaften ein bißchen verduftet sind, wollen wir solche Würdigung versuchen. Soviel können wir schon heute sagen: das Recht ist auf beiden Seiten, und die Personen werden getrieben von der fatalsten Notwendigkeit. Der größte Teil der Katholischen, weise und gemäßigt, verdammt zwar das unzeitige Schilderheben ihrer Parteigenossen, aber diese gehorchen dem Befehl ihres Gewissens, ihrem höchsten Glaubensgesetz, dem compelle intrare, sie tun ihre Schuldigkeit, und sie verdienen aus diesem Grunde unsre Achtung. Wir kennen sie nicht, wir haben kein Urteil über ihre Person, und wir sind nicht berechtigt, an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln...
Diese Leute sind nicht eben meine Lieblinge, aber, aufrichtig gestanden, trotz ihrem düstern, blutrünstigen Zelotismus sind sie mir lieber als die toleranten Amphibien des Glaubens und des Wissens, als jene Kunstgläubigen, die ihre erschlafften Seelen durch fromme Musik und Heiligenbilder kitzeln lassen, und gar als jene Religionsdilettanten, die für die Kirche schwärmen, ohne ihren Dogmen einen strengen Gehorsam zu widmen, die mit den heiligen Symbolen nur liebäugeln, aber keine ernsthafte Ehe eingehen wollen und die man hier catholiques marrons nennt. Letztere füllen jetzt unsre fashionablen Kirchen, z.B. Sainte-Madeleine oder Notre-Dame de Lorette, jene heiligen Boudoirs, wo der süßlichste Rokokogeschmack herrscht, ein Weihkessel, der nach Lavendel düftet, reichgepolsterte Betstühle, rosige Beleuchtung und schmachtende Gesänge, überall Blumen und tändelnde Engel, kokette Andacht, die sich fächert mit éventails von Boncher und Watteau – Pompadourchristentum.
Ebenso unrecht wie unrichtig ist die Benennung Jesuiten, womit man hier die Gegner der Universität zu bezeichnen pflegt. Erstens gibt es gar keine Jesuiten mehr in dem Sinne, den man mit jenem Namen verknüpft. Aber wie es oben in der Diplomatie Leute gibt, die jedesmal, wenn die Flutzeit der Revolution eintritt, das gleichzeitige Heranbranden so vieler brausenden Wellen für das Werk eines Comité directeur in Paris erklären, so gibt es Tribunen hier unten, die, wenn die Ebbe beginnt, wenn die revolutionären Springfluten sich wieder verlaufen, diese Erscheinung den Intrigen der Jesuiten zuschreiben und sich ernsthaft einbilden, es residiere ein Jesuitengeneral in Rom, welcher durch seine vermummten Schergen die Reaktion der ganzen Welt leite. Nein, es existiert kein solcher Jesuitengeneral in Rom, wie auch in Paris kein Comité directeur existiert; das sind Märchen für große Kinder, hohle Schreckpopanze, moderner Aberglaube. Oder ist es eine bloße Kriegslist, daß man die Gegner der Universität für Jesuiten erklärt? Es gibt in der Tat hierzulande keinen Namen, der weniger populär wäre. Man hat im vorigen Jahrhundert gegen diesen Orden so gründlich polemisiert, daß noch eine geraume Zeit vergehen dürfte, ehe man ein mildes, unparteiisches Urteil über ihn fällen wird. Es will mich bedünken, als habe man die Jesuiten nicht selten ein bißchen jesuitisch behandelt und als seien die Verleumdungen, die sie sich zuschulden kommen ließen, ihnen manchmal mit zu großen Zinsen zurückgezahlt worden. Man könnte auf die Väter der Gesellschaft Jesu das Wort anwenden, welches Napoleon über Robespierre aussprach: sie sind hingerichtet worden, nicht gerichtet. Aber der Tag wird kommen, wo man auch ihnen Gerechtigkeit widerfahren lassen und ihre Verdienste anerkennen wird. Schon jetzt müssen wir eingestehen, daß sie durch ihre Missionsanstalten die Gesittung der Welt, die Zivilisation unberechenbar gefördert, daß sie ein heilsames Gegengift gewesen gegen die lebenverpestenden Miasmen von Port-Royal, daß sogar ihre vielgescholtene Akkommodationslehre noch das einzige Mittel war, wodurch die Kirche über die moderne, freiheitslustige und genußsüchtige Menschheit ihre Oberherrschaft bewahren konnte. „Mangez un bœuf et soyez chrétien“, sagten die Jesuiten zu dem Beichtkinde, dem in der Karwoche nach einem Stückchen Rindfleisch gelüstete; aber ihre Nachgiebigkeit lag nur in der Not des Momentes, und sie hätten später, sobald ihre Macht befestigt, die fleischfressenden Völker wieder zu den magersten Fastenspeisen zurückgelenkt. Laxe Doktrinen für die empörte Gegenwart, eiserne Ketten für die unterjochte Zukunft. Sie waren so klug!
Aber alle Klugheit hilft nichts gegen den Tod. Sie liegen längst im Grabe. Es gibt freilich Leute in schwarzen Mänteln und mit ungeheuern, dreieckig aufgekrempten Filzhüten, aber das sind keine echten Jesuiten. Wie manchmal ein zahmes Schaf sich in ein Wolfsfell des Radikalismus vermummt, aus Eitelkeit oder Eigennutz oder Schabernack, so steckt im Fuchspelz des Jesuitismus manchmal nur ein beschränktes Grauchen. – Ja, sie sind tot. Die Väter der Gesellschaft Jesu haben in den Sakristeien nur ihre Garderobe zurückgelassen, nicht ihren Geist. Dieser spukt an andern Orten, und manche Champions der Universität, die ihn so eifrig exorzieren, sind vielleicht davon besessen, ohne es zu merken. Ich sage dieses nicht in bezug auf die Herren Michelet und Quinet, die ehrlichsten und wahrhaftigsten Seelen, sondern ich habe hier im Auge zunächst den wohlbestallten Minister des öffentlichen Unterrichts, den Rektor der Universität, den Herrn Villemain. Seiner Magnifizenz zweideutiges Treiben berührt mich immer widerwärtig. Ich kann leider nur dem Esprit und dem Stile dieses Mannes meine Achtung zollen. Nebenbei gesagt, wir sehen hier, daß der berühmte Ausspruch von Buffon: „Le style, c’est l’homme“, grundfalsch ist. Der Stil des Herrn Villemain ist schön, edel, wohlgewachsen und reinlich. – Auch Victor Cousin kann ich nicht ganz verschonen mit dem Vorwurf des Jesuitismus. Der Himmel weiß, daß ich geneigt bin, Herrn Cousins Vorzügen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, daß ich den Glanz seines Geistes gern anerkenne; aber die Worte, womit er jüngst in der Akademie die Übersetzung Spinozas ankündigte, zeugen weder von Mut noch von Wahrheitsliebe. Cousin hat gewiß die Interessen der Philosophie unendlich gefördert, indem er den Spinoza dem denkenden Frankreich zugänglich machte, aber er hätte zugleich ehrlich gestehen sollen, daß er dadurch der Kirche keinen großen Dienst geleistet. Im Gegenteil sagte er, der Spinoza sei von einem seiner Schüler, einem Zögling der École normale, übersetzt worden, um ihn mit einer Widerlegung zu begleiten, und während die Priesterpartei die Universität so heftig angreife, sei es doch eben diese arme, unschuldige, verketzerte Universität, welche den Spinoza widerlege, den gefährlichen Spinoza, jenen Erbfeind des Glaubens, der mit einer Feder aus den schwarzen Flügeln Satans seine deiziden Bücher geschrieben! „Wen betrügt man hier?“ ruft Figaro. Es war in der Académie des sciences morales et politiques, wo Cousin in solcher Weise die französische Übersetzung des Spinoza ankündigte; sie ist außerordentlich gelungen, während die gerühmte Widerlegung so schwach und dürftig ist, daß sie in Deutschland für ein Werk der Ironie gelten würde.