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7. Zweiter Besuch bei Smerdjakow

Smerdjakow war damals schon aus dem Krankenhaus entlassen. Iwan Fjodorowitsch kannte seine neue Wohnung in jenem schiefen kleinen Häuschen aus unverschalten Balken, das nur zwei durch einen Flur getrennte Stuben enthielt. In der einen Stube wohnte Marja Kondratjewna mit ihrer Mutter, in der anderen für sich allein Smerdjakow. Gott weiß, unter welchen Bedingungen er bei ihnen wohnte, ob umsonst oder zur Miete. Später hieß es, er hätte sich als Marja Kondratjewnas Bräutigam bei ihnen niedergelassen und einstweilen gratis gelebt. Mutter wie Tochter schätzten ihn sehr und betrachteten ihn als ein weit über ihnen stehendes Wesen.

Nachdem Iwan Fjodorowitsch geklopft hatte und ihm geöffnet worden war, begab er sich auf Marja Kondratjewnas Weisung direkt in die links gelegene »gute Stube«, die Smerdjakow bewohnte. In dieser Stube stand ein Kachelofen, der jetzt stark geheizt war. Die Wände waren mit himmelblauen, allerdings völlig zerfetzten Tapeten geschmückt, und darunter in den Holzritzen wimmelte es von Schaben in solcher Menge, daß ein unaufhörliches Rascheln zu hören war. Das Mobiliar war nur spärlich: zwei Bänke an den beiden Wänden und zwei Stühle am Tisch. Der Tisch, obwohl nur ein einfacher Holztisch, war mit einer rotgemusterten Decke bedeckt. An den beiden kleinen Fenstern stand ein Blumentopf mit Geranien. In der Ecke war ein Schrein mit Heiligenbildern angebracht. Auf dem Tisch stand ein kleiner, stark verbeulter Samowar aus Messing und ein Präsentierteller mit zwei Tassen. Seinen Tee hatte Smerdjakow jedoch bereits getrunken, und der Samowar war erloschen. Er selbst saß am Tisch auf einer Bank, blickte in ein Heft und schrieb etwas mit der Feder. Ein Fläschchen mit Tinte stand neben ihm, ebenso ein niedriger eiserner Leuchter, letzterer sogar mit Stearinkerze. Iwan Fjodorowitsch sah sofort an Smerdjakows Gesicht, daß er sich von seiner Krankheit wieder völlig erholt hatte. Sein Gesicht war frischer und voller geworden, die Tolle sorgsam in die Höhe gekämmt, die Schläfenhaare pomadisiert. Er saß in einem bunten, wattierten Schlafrock da, der recht schmutzig und abgetragen war. Er trug eine Brille, die Iwan Fjodorowitsch früher an ihm noch nicht gesehen hatte. Dieser unbedeutende Umstand schien Iwan Fjodorowitsch ganz besonders zu ärgern: So eine Kreatur, und trägt eine Brille! — Smerdjakow hob langsam den Kopf und blickte den Eintretenden durch die Brille unverwandt an; dann nahm er sie ruhig ab und erhob sich von der Bank, aber durchaus nicht sehr respektvoll, sondern ziemlich lässig, nur um die allernotwendigste Höflichkeit zu wahren, ohne die es nun einmal nicht geht. Alles das bemerkte Iwan Fjodorowitsch augenblicklich und verstand es sofort. Doch die Hauptsache war Smerdjakows Blick, der zu sagen schien: ‚Warum belästigst du mich schon wieder? Wir haben uns doch damals über alles ausgesprochen, warum bist du noch einmal zu mir gekommen?‘ Iwan Fjodorowitsch beherrschte sich nur mit Mühe.

»Es ist heiß bei dir«, sagte er noch im Stehen und knöpfte sich den Überzieher auf.

»Legen Sie doch ab!« sagte Smerdjakow, als erteilte er eine Erlaubnis.

Iwan Fjodorowitsch zog den Überzieher aus und warf ihn auf eine Bank, griff mit zitternden Händen nach einem Stuhl, rückte ihn hastig an den Tisch und setzte sich. Smerdjakow hatte sich schon vorher wieder auf seiner Bank niedergelassen.

»Erstens — sind wir allein?« fragte Iwan Fjodorowitsch streng und nachdrücklich! »Kann uns niemand hören?«

»Niemand. Sie haben ja selbst gesehen: der Flur ist dazwischen.«

»Hör mal zu, Freundchen. Was hast du für einen Unsinn geredet, als ich aus dem Krankenhaus wegging von dir? Daß auch du dem Untersuchungsrichter nicht unser ganzes Gespräch am Tor mitteilst, wenn ich deine Fähigkeit, einen epileptischen Anfall zu simulieren, verschweige? Was sollte das heißen: nicht das ganze Gespräch? Was hast du damit gemeint? War das etwa eine Drohung, wie? Als ob ich mit dir eine Art Bündnis geschlossen hätte und mich vor dir fürchtete, wie?«

Iwan Fjodorowitsch sagte das in voller Wut, wobei er klar und absichtlich zu verstehen gab, daß er alle Winkelzüge und listigen Manöver verachte und offenes Spiel spielen wolle. Smerdjakows Augen funkelten boshaft, und sein linkes Auge zwinkerte; auf diese Weise gab er, obwohl seiner Gewohnheit gemäß ruhig und gemessen, gleich die wortlose Antwort: ‚Du willst ein offenes Verfahren? Nun gut, das kannst du haben!‘

»Was ich damals gemeint habe und weswegen ich das gesagt habe, ist folgendes: Daß Sie ihren Vater, obwohl Sie seine Ermordung ahnten, damals als Opfer im Stich ließen und wegreisten, damit die Leute nicht zu üblen Schlußfolgerungen über Ihre Gefühle und vielleicht auch noch über etwas anderes gelangten. Das ist es, wovon ich Ihnen damals versprach, daß ich es den Behörden nicht mitteilen würde.«

Smerdjakow sagte das zwar langsam und offenbar auch mit Selbstbeherrschung; trotzdem war seiner Stimme schon eine gewisse Hartnäckigkeit, etwas Boshaftes und Herausforderndes anzuhören. Dreist starrte er Iwan Fjodorowitsch an, diesem flimmerte es im ersten Moment vor Erstaunen vor den Augen.

»Wie?« rief er! »Was? Bist du verrückt geworden?«

»Ich bin durchaus bei vollem Verstand.«

»Habe ich damals etwa von dem Mord gewußt?« schrie Iwan Fjodorowitsch endlich und schlug mit der Faust heftig auf den Tisch! »Was heißt das: ‚Noch über etwas anderes‘? Rede, du Schurke!«

Smerdjakow schwieg und starrte Iwan Fjodorowitsch weiterhin frech an.

»Rede, du stinkende Kanaille! Was meinst du damit. ‚Noch über etwas anderes‘?« brüllte er.

»Damit meinte ich, daß Sie am Ende auch selber den Tod Ihres Vaters wünschten.«

Iwan Fjodorowitsch sprang auf und schlug ihn so heftig mit der Faust auf die Schulter, daß er gegen die Wand taumelte. Im nächsten Augenblick war Smerdjakows Gesicht tränenübergossen und schien auszudrücken: ‚Schämen Sie sich, mein Herr, einen schwachen Menschen zu schlagen!‘ Er bedeckte die Augen mit seinem blaukarierten, vollgeschneuzten Baumwolltaschentuch und weinte still vor sich hin. So verging etwa eine Minute.

»Nun genug! Hör auf!« sagte Iwan Fjodorowitsch endlich gebieterisch und setzte sich wieder auf seinen Stuhl! »Bring mich nicht um den letzten Rest meiner Geduld!«

Smerdjakow nahm seinen Lappen von den Augen. Jeder Zug seines runzligen Gesichts drückte Kränkung aus.

»Also du Schuft dachtest, ich wollte gemeinsam mit Dmitri den Vater ermorden?«

»Ihre damaligen Gedanken kannte ich nicht«, sagte Smerdjakow mit beleidigter Miene! »Darum hielt ich Sie damals am Tor auf, um Sie über diesen Punkt auszuforschen.«

»Was wolltest du erforschen? Was?«

»Eben diesen Punkt. Ob Sie die Ermordung Ihres Vaters wünschten oder nicht wünschten.«

Was Iwan Fjodorowitsch am meisten empörte, war der freche Ton, den Smerdjakow hartnäckig beibehielt.

»Du hast ihn ermordet!« rief er plötzlich.

Smerdjakow lächelte geringschätzig.

»Daß ich ihn nicht ermordet habe, wissen Sie selber ganz genau. Ich hatte geglaubt, ein kluger Mensch würde es für überflüssig halten, darüber auch nur ein Wort zu verlieren.«

»Aber warum, warum ist dir damals so ein Verdacht gegen mich in den Sinn gekommen?«

»Wie Ihnen schon bekannt ist, einzig und allein aus Angst. Ich befand mich damals in einer solchen Lage, daß ich, vor Angst zitternd, alle Menschen verdächtigte. Auch Sie beschloß ich auszuforschen; denn ich dachte, falls Sie denselben Wunsch haben sollten wie Ihr Bruder, dann wäre ohnehin alles entschieden, und ich selbst würde mit umkommen wie eine Fliege.«

»Hör mal, vor zwei Wochen hast du das nicht gesagt!«

»Genau dasselbe habe ich auch im Krankenhaus in dem Gespräch mit Ihnen gemeint; nur nahm ich an, daß Sie mich auch ohne überflüssige Worte verstehen würden, und als ein kluger Mensch kein offenes Gespräch wünschten!«

»Nun sieh mal einer an! Aber antworte, antworte, ich will alles wissen! Wodurch habe ich eigentlich in deiner Schurkenseele diesen meiner so unwürdigen Verdacht erwecken können?«

»Selbst den Mord zu begehen — das hätten Sie um keinen Preis fertiggebracht, und das wollten Sie auch nicht. Aber daß ein anderer den Mord beging, das wollten Sie.«

»Und mit welcher Ruhe er das sagt! Warum hätte ich das wünschen sollen? Welchen Anlaß hatte ich, das zu wünschen?«

»Welche Frage! Die Erbschaft!« erwiderte Smerdjakow giftig, ja rachsüchtig! »Sie erbten ja dann zu dritt die Hinterlassenschaft Ihres Vaters, so daß jedem beinahe vierzigtausend Rubel zufielen, vielleicht sogar noch mehr. Hätte aber Fjodor Pawlowitsch damals diese Dame, Agrafena Alexandrowna, geheiratet, hätte die gleich nach der Trauung das ganze Kapital auf sich übertragen lassen, denn sie ist ja eine kluge Person, so daß die drei Brüder zusammen nicht einmal zwei Rubel von der Erbschaft bekommen hätten. Und wieviel fehlte denn damals an der Eheschließung? Nur ein Haarbreit. Diese Dame brauchte nur mit dem kleinen Finger so zu machen, dann wäre er sofort mit heraushängender Zunge hinter ihr her zur Kirche gelaufen.«

Iwan Fjodorowitsch beherrschte sich mit mühsamer Anstrengung! »Nun gut«, sagte er endlich, »du siehst, ich bin nicht aufgesprungen, habe dich nicht verprügelt und nicht totgeschlagen … Rede weiter. Ich habe also deiner Ansicht nach meinen Bruder Dmitri dazu ausersehen und auf ihn gerechnet?«

»Wie hätten Sie denn nicht auf ihn rechnen sollen? Wenn er den Mord verübte, verlor er ja alle Adelsrechte, seinen Rang und sein Vermögen und wurde nach Sibirien verschickt. Dann fiel sein Teil der Erbschaft Ihnen und Ihrem Bruder Alexej Fjodorowitsch zu gleichen Teilen zu; jeder von ihnen bekam also nicht vierzigtausend, sondern sechzigtausend Rubel. Also haben Sie sicherlich auf Dmitri Fjodorowitsch gerechnet!«

»Na, ich lasse mir viel von dir gefallen! Hör zu, du Taugenichts: Wenn ich damals auf jemand gerechnet hätte, so natürlich auf dich und nicht auf Dmitri! Ich muß schon sagen, ich traute dir damals durchaus irgendwelche Schurkereien zu … Ich erinnere mich, welchen Eindruck du auf mich gemacht hast!«

»Auch ich habe damals einen Augenblick lang gedacht, daß Sie auch auf mich rechneten«, erwiderte Smerdjakow mit spöttischem Lächeln! »Und eben dadurch haben Sie sich damals noch mehr vor mir enthüllt! Denn wenn Sie mir so etwas zutrauten und trotzdem wegfuhren, so sagten Sie mir ja dadurch gewissermaßen: Du kannst den Vater totschlagen, ich bin dir nicht hinderlich.«

»Schurke! So hast du das aufgefaßt?«

»Und alles wegen dieses Tschermaschnja. Ich bitte Sie! Sie beabsichtigen, nach Moskau zu reisen, und schlagen alle Bitten Ihres Vaters ab, doch lieber nach Tschermaschnja zu fahren. Und auf ein einziges dummes Wort von mir erklären Sie sich auf einmal einverstanden! Wozu brauchten Sie denn damals in die Fahrt nach Tschermaschnja einzuwilligen? Wenn Sie nämlich nicht nach Moskau, sondern ohne Grund nach Tschermaschnja fuhren, nur infolge eines Wortes, das ich gesagt hatte, so erwarteten Sie doch offenbar etwas von mir!«

»Nein, ich schwöre es, nein! » schrie Iwan zähneknirschend.

»Wie können Sie da nein sagen! Es wäre doch vielmehr in der Ordnung gewesen, wenn Sie als der Sohn Ihres Vaters mich für meine Worte zuallererst auf die Polizei gebracht hätten und mich hätten auspeitschen lassen … Oder wenn Sie mir wenigstens gleich auf der Stelle ein paar in die Schnauze gehauen hätten. Aber ich bitte Sie — im Gegenteil, Sie wurden nicht im geringsten zornig, sondern handelten sofort ganz genau nach meinen sehr dummen Worten und fuhren dorthin, was doch ganz ungereimt war! Es hätte sich nämlich gehört, daß Sie hiergeblieben wären, um das Leben Ihres Vaters zu schützen … Wie hätte ich daraus nicht meine Schlüsse ziehen sollen?«

Iwan saß mit finsterem Gesicht da und stützte krampfhaft beide Fäuste auf die Knie.

»Ja, schade, daß ich dir nicht ein paar in die Schnauze gegeben habe«, sagte er, bitter lächelnd! »Dich damals auf die Polizei zu schleppen war nicht ratsam, wer hätte mir geglaubt, und worauf hätte ich mich berufen können? Na, aber ein paar in die Schnauze … Leider habe ich nicht daran gedacht, das ist zwar verboten, aber ich hätte dir doch deine Fratze zu Brei schlagen sollen!«

Smerdjakow betrachtete ihn mit wahrem Genuß.

»Unter gewöhnlichen Umständen«, sagte er in jenem selbstzufriedenen, lehrhaften Ton, in dem er ehemals an Fjodor Pawlowitschs Tisch mit Grigori Wassiljewitsch über den Glauben disputiert und ihn gehänselt hatte, »unter gewöhnlichen Umständen ist es heutzutage allerdings gesetzlich verboten, jemanden in die Schnauze zu schlagen, und niemand tut das mehr. Na, aber unter außerordentlichen Umständen wird nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt, selbst wo die vollste französische republikanische Freiheit herrscht, immer noch geschlagen wie zu Adams und Evas Zeiten, und das wird auch nie aufhören. Sie jedoch haben es damals auch unter so außerordentlichen Umständen nicht gewagt.«

»Wozu lernst du denn französische Vokabeln?« fragte Iwan und deutete mit dem Kopf auf die Hefte auf dem Tisch.

»Warum sollte ich sie nicht lernen, um meine Bildung zu vervollständigen? Ich denke, daß es vielleicht auch mir noch einmal beschieden sein wird, in jenen glücklichen Gegenden Europas zu leben.«

»Paß auf, du Scheusal!« sagte Iwan; seine Augen funkelten, und er zitterte am ganzen Körper! »Ich fürchte deine Beschuldigungen nicht. Sag gegen mich aus, was du willst! Und wenn ich dich nicht gleich jetzt totgeprügelt habe, so nur deswegen nicht, weil ich dich im Verdacht habe, das Verbrechen begangen zu haben, und dich vor Gericht ziehen werde. Ich werde dich schon entlarven.«

»Aber meiner Ansicht nach werden Sie besser schweigen. Denn was können Sie gegen mich bei meiner völligen Unschuld vorbringen? Und wer wird Ihnen glauben? Sollten Sie jedoch damit anfangen, werde auch ich alles erzählen, denn warum sollte ich mich nicht verteidigen?«

»Meinst du, daß ich dich jetzt fürchte?«

»Mag man auch bei Gericht allem, was ich Ihnen jetzt gesagt habe, keinen Glauben schenken — das Publikum wird es doch tun, und Sie werden sich schämen müssen.«

»Das bedeutet wohl wieder: ‚Auch ein kurzes Gespräch mit einem klugen Menschen ist von Vorteil‘, wie?« fragte Iwan zähneknirschend.

»Da haben Sie es ganz genau getroffen. Also, seien Sie denn auch klug!«

Zitternd vor Empörung stand Iwan Fjodorowitsch auf, zog seinen Überzieher an und verließ schnell die Stube und das Haus, ohne Smerdjakow noch weiter zu antworten oder ihn auch nur anzusehen. Die kühle Abendluft erfrischte ihn. Am Himmel schien hell der Mond. Ein beängstigendes Chaos von Gedanken und Gefühlen brodelte in seiner Seele. ‚Soll ich gleich hingehen und Smerdjakow anzeigen? Aber was soll ich gegen ihn vorbringen? Er ist ja unschuldig. Er wird im Gegenteil mich anklagen. In der Tat, warum bin ich damals nach Tschermaschnja gefahren? Warum, ja warum?‘ fragte sich Iwan Fjodorowitsch. ‚Ja, allerdings, ich erwartete etwas, da hat er recht …‘ Und er erinnerte sich zum hundertstenmal, wie er in der letzten Nacht beim Vater von der Treppe aus gehorcht hatte; und diese Erinnerung war jetzt mit einer solchen Qual für ihn verbunden, daß er wie von einem Dolchstoß getroffen stehenblieb. ‚Ja, ich habe das damals erwartet, das ist wahr! Ich wollte den Mord, wollte ihn geradezu! Wollte ich den Mord, wollte ich ihn wirklich? Ich muß Smerdjakow totschlagen! Wenn ich es jetzt nicht wage, Smerdjakow totzuschlagen, hat das Leben für mich keinen Wert mehr!‘ Ohne in seiner Wohnung vorbeizugehen, begab sich Iwan Fjodorowitsch dann geradewegs zu Katerina Iwanowna und erschreckte sie durch sein Benehmen; er war wie von Sinnen. Er berichtete ihr sein ganzes Gespräch mit Smerdjakow, vollständig, bis in die geringste Einzelheit, und konnte sich gar nicht beruhigen, wie sehr sie ihn auch zu beschwichtigen suchte; immerzu lief er im Zimmer auf und ab und führte seltsame, zusammenhanglose Reden.

Zuletzt setzte er sich hin, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte den Kopf in die Hände und sprach folgende seltsamen Sätze aus: »Wenn nicht Dmitri den Mord begangen hat, sondern Smerdjakow, bin ich natürlich mit ihm solidarisch, denn ich habe ihn angestiftet. Ob ich ihn angestiftet habe, weiß ich noch nicht. Doch wenn er den Mord begangen hat und nicht Dmitri, dann bin natürlich auch ich ein Mörder.«

Als Katerina Iwanowna das hörte, stand sie schweigend von ihrem Platz auf, ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine daraufstehende Schatulle, nahm ein Blatt Papier heraus und legte es vor Iwan hin. Dieses Blatt Papier war jenes Schriftstück, von dem Iwan Fjodorowitsch später zu Aljoscha sagte, es beweise mit mathematischer Sicherheit, daß ihr Bruder Dmitri den Vater ermordet habe. Es war ein Brief, den Mitja in betrunkenem Zustand Katerina Iwanowna an jenem Abend geschrieben hatte, als er Aljoscha, der nach der Szene zwischen Katerina Iwanowna und Gruschenka ins Kloster zurückkehrte, auf dem Feld begegnet war. Als Mitja sich damals von Aljoscha getrennt hatte, war er zu Gruschenka geeilt. Ob er sie gesprochen hat, ist unbekannt; spätabends, war er jedenfalls im Restaurant »Zur Residenz« erschienen und hatte sich dort gehörig betrunken. In diesem Zustand hatte er sich Feder und Papier geben lassen und ein wichtiges Beweisstück gegen sich selbst niedergeschrieben. Es war ein rasender, redseliger, unzusammenhängender Brief, eben das, was man einen »betrunkenen« Brief nennt: ähnlich, wie wenn ein Betrunkener bei der Rückkehr nach Hause seiner Frau oder einem Hausgenossen sehr hitzig erzählt, daß man ihn soeben beleidigt habe und was für ein Schuft der Beleidiger und was für ein prächtiger Mensch demgegenüber er selbst sei und daß er es diesem Schuft heimzahlen werde — und das alles in nicht abreißender Rede, zusammenhanglos und aufgeregt, untermalt von Faustschlägen auf den Tisch und vielen Tränen der Betrunkenheit. Das Papier zu diesem Brief, das man ihm im Restaurant gegeben hatte, war ein schmutziges Stück gewöhnlichen, minderwertigen Schreibpapiers; auf der Rückseite stand irgendeine Rechnung. Für die Redseligkeit des Betrunkenen hatte der Raum offenbar nicht ausgereicht, und Mitja hatte nicht nur alle Ränder vollgeschrieben, sondern die letzten Zeilen waren sogar quer über das bereits Geschriebene geschmiert. Der Brief hatte folgenden Wortlaut:

»Verhängnisvolle Katja! Morgen werde ich mir Geld beschaffen und Dir Deine dreitausend Rubel wiedergeben, und dann leb wohl, Du, die Du eines so gewaltigen Zornes fähig bist, aber auch meiner Liebe sage ich dann Lebewohl! Machen wir ein Ende! Morgen werde ich mir bei allen möglichen Leuten das Geld zu beschaffen versuchen, falls mir das jedoch nicht gelingt, dann, darauf gebe ich Dir mein Ehrenwort, werde ich zu meinem Vater gehen und ihm den Schädel einschlagen und ihm das Geld unter seinem Kopfkissen wegnehmen, sobald Iwan abgereist ist. Und wenn ich zur Zwangsarbeit nach Sibirien muß — die dreitausend Rubel werde ich Dir zurückgeben! Du selbst aber lebe wohl! Ich verbeuge mich vor Dir bis zur Erde, denn ich habe mich Dir gegenüber wie ein Schuft benommen. Verzeih mir! Nein, verzeih mir lieber nicht, dann wird mir und Dir leichter zumute sein! Lieber die Zwangsarbeit als Deine Liebe, denn ich liebe eine andere! Du aber hast sie heute allzusehr kennengelernt, wie kannst Du verzeihen! Ich werde den totschlagen, der mich bestohlen hat. Ich werde von euch allen nach dem Osten weggehen, um niemand mehr zu kennen. Auch sie will ich nicht mehr kennen, denn nicht allein Du quälst mich, sondern auch sie. Lebe wohl!

P. S. Ich schreibe einen Fluch, doch ich bete Dich an! Das fühle ich in meiner Brust. Da ist noch eine Saite übriggeblieben, und die tönt. Am besten schneide ich mein Herz mittendurch. Ich werde mich töten, vorher aber jenen Hund. Ich werde ihm die dreitausend Rubel entreißen und sie Dir hinwerfen. Ich habe mich Dir gegenüber zwar wie ein Schuft benommen, trotzdem bin ich kein Dieb! Erwarte die dreitausend Rubel! Sie liegen bei dem Hund unter der Matratze, mit einem rosa Bändchen umwickelt. Ich bin kein Dieb, sondern ich töte den, der mich bestohlen hat. Katja, mach kein verächtliches Gesicht: Dmitri ist kein Dieb, sondern ein Mörder! Er hat seinen Vater totgeschlagen und sich zugrunde gerichtet, um aufrecht stehen zu können und Deinen Stolz nicht ertragen zu müssen. Und um Dich nicht lieben zu müssen.

PP. S. Ich küsse Deine Füße, lebe wohl!

PP. SS. Katja, bete zu Gott, daß mir diese Leute das Geld geben. Dann werde ich kein Blut vergießen. Geben Sie es mir aber nicht, dann vergieße ich Blut. Töte mich!

Dein Sklave und Feind D. Karamasow.«

Als Iwan dieses Schriftstück gelesen hatte, stand er überzeugt auf. Also hatte sein Bruder den Mord begangen und nicht Smerdjakow. Und wenn Smerdjakow nicht, dann auch er, Iwan nicht. Dieser Brief erlangte in seinen Augen sofort die Bedeutung eines unwiderleglichen Beweises. An Mitjas Schuld konnte für ihn nun kein Zweifel mehr bestehen. Beiläufig gesagt: daß Mitja den Mord gemeinsam mit Smerdjakow begangen haben könnte, diesen Verdacht hatte Iwan niemals gehegt; das paßte auch nicht zu den Tatsachen. Iwan war vollständig beruhigt. Am anderen Morgen erinnerte er sich nur mit Geringschätzung an Smerdjakow und dessen Spottreden. Ein paar Tage darauf wunderte er sich sogar darüber, daß er dessen Verdächtigungen so qualvoll als beleidigend empfunden hatte. Er nahm sich vor, ihn zu verachten und zu vergessen. So verging ein Monat. Nach Smerdjakow erkundigte er sich bei niemand mehr; er hörte nur ein paarmal flüchtig, daß dieser sehr krank und nicht mehr voll bei Verstand sei! »Er wird im Wahnsinn enden«, hatte der junge Arzt Warwinski einmal gesagt, und Iwan entsann sich dieses Ausspruchs. In der letzten Woche dieses Monats fing Iwan selbst an, sich unwohl zu fühlen. Er war auch schon zu einer Konsultation zu dem Moskauer Arzt gegangen, den Katerina Iwanowna hatte kommen lassen und der kurz vor der Gerichtsverhandlung eingetroffen war. Gerade in dieser Zeit hatten sich seine Beziehungen zu Katerina Iwanowna zugespitzt. Die beiden waren sozusagen zwei ineinander verliebte Feinde. Katerina Iwanownas Rückfälle in ihre Liebe zu Mitja, die zwar immer nur von kurzer Dauer, aber sehr stark waren, hatten Iwan bereits in Raserei versetzt. Merkwürdig, bis zu jener letzten Szene bei Katerina Iwanowna, als Aljoscha in Mitjas Auftrag zu ihr gekommen war, hatte er, Iwan, in dem ganzen Monat von ihr kein einziges Mal einen Zweifel an Mitjas Schuld gehört, trotz ihrer ihm so verhaßten »Rückfälle«. Und noch eines war bemerkenswert: Er fühlte, daß er Mitja mit jedem Tag mehr haßte, und erkannte gleichzeitig, daß es nicht wegen der »Rückfälle« Katjas war, sondern weil er den Vater totgeschlagen hatte! Das fühlte er und war sich dessen vollständig bewußt. Und dennoch ging er zehn Tage vor der Gerichtsverhandlung zu Mitja und legte ihm einen Fluchtplan vor, den er offenbar schon lange überdacht hatte. Außer der Hauptursache, die ihn zu diesem Schritt veranlaßte, war noch eine nicht vernarbte Wunde in seinem Herzen mit im Spiel, eine Wunde, die von der Bemerkung Smerdjakows herrührte, es sei für ihn, Iwan, vorteilhaft, wenn sein Bruder verurteilt würde: dann erhöhe sich sein und Aljoschas Anteil an der Hinterlassenschaft des Vaters von je vierzigtausend auf je sechzigtausend Rubel. Er beschloß daher, seinerseits dreißigtausend Rubel zu opfern, um seinem Bruder Mitja die Flucht zu ermöglichen. Nach seiner Rückkehr von ihm war er sehr traurig und verstört; es war ihm auf einmal zu Bewußtsein gekommen, daß er die Flucht nicht nur deswegen wünschte, um dafür dreißigtausend Rubel zu opfern und so seine Wunde zu heilen, sondern auch noch aus einem anderen Grund. ‚Wünsche ich sie deswegen, weil ich im Grunde meiner Seele ein ebensolcher Mörder bin?‘ fragte er sich selbst. Etwas Fernliegendes, Brennendes quälte seine Seele. Vor allen Dingen aber hatte in diesem Monat sein Stolz furchtbar gelitten — doch davon später. Als Iwan Fjodorowitsch nach seinem Gespräch mit Aljoscha schon den Klingelgriff an seiner Wohnung berührt und sich dann doch entschlossen hatte, zu Smerdjakow zu gehen, hatte er einem plötzlich aufsteigendem Gefühl des Unwillens gehorcht. Er hatte sich auf einmal erinnert, wie Katerina Iwanowna ihm soeben in Aljoschas Gegenwart zugerufen hatte: »Nur du allein hast mich zu der Überzeugung gebracht, daß Mitja der Mörder ist!« Bei diesem Gedanken erstarrte Iwan: Nie in seinem Leben hatte er sie zu überzeugen versucht, daß Mitja der Mörder sei; vielmehr hatte er sich damals, von Smerdjakow zurückgekehrt, sogar selbst vor ihr verdächtigt. Im Gegenteil, sie war es gewesen, die ihm damals das Schriftstück vorgelegt und dadurch die Schuld des Bruders bewiesen hatte! Und nun hatte sie auf einmal ausgerufen: »Ich bin selber bei Smerdjakow gewesen!« Wann war sie dagewesen? Iwan wußte nichts davon. Also war sie gar nicht so fest von Mitjas Schuld überzeugt! Und was hatte Smerdjakow ihr sagen können? Und was hatte er ihr wirklich gesagt? Ein schrecklicher Zorn überkam ihn. Er begriff nicht, wie er vor einer halben Stunde diese Worte hatte anhören können, ohne sofort dagegen zu protestieren. Er ließ den Klingelgriff los und machte sich auf den Weg zu Smerdjakow. ‚Vielleicht werde ich ihn diesmal totschlagen!‘ dachte er unterwegs.