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1. Bei Gruschenka

Aljoscha machte sich auf den Weg nach dem Kirchplatz, zum Haus der Kaufmannswitwe Morosowa, zu Gruschenka. Sie hatte Fenja am Morgen mit der dringenden Bitte zu ihm geschickt, er möchte doch bei ihr vorbeikommen. Aljoscha hatte von Fenja erfahren, daß das gnädige Fräulein schon seit dem vorigen Tag besonders erregt war.

In den zwei Monaten seit Mitjas Festnahme war Aljoscha häufig bei ihr gewesen, und zwar aus eigenem Antrieb wie auch in Mitjas Auftrag. Drei Tage nach Mitjas Verhaftung war Gruschenka heftig erkrankt und hatte fast fünf Wochen lang krank gelegen, davon eine Woche ohne Bewußtsein. Sie hatte sich im Gesicht stark verändert, war mager und gelb geworden, doch konnte sie schon seit zwei Wochen wieder ausgehen. Nach Aljoschas Ansicht war ihr Gesicht noch anziehender geworden als vorher, und wenn er zu ihr kam, machte es ihm Freude, ihrem Blick zu begegnen. Es schien, als habe ihr Blick an Festigkeit gewonnen und etwas Durchgeistigtes bekommen; in ihm äußerte sich ein seelischer Wandel zu demütiger Freundlichkeit und zugleich unerschütterlicher Entschlossenheit. Zwischen ihren Brauen hatte sich eine kleine, senkrechte Falte gebildet, die ihrem lieben Gesicht den Ausdruck in sich gekehrter, auf den ersten Blick sogar etwas mürrischer Nachdenklichkeit verlieh. Von der früheren Launenhaftigkeit war nicht die Spur zurückgeblieben. Eigenartig berührte Aljoscha auch, daß sie trotz allen Unglücks, das sie heimgesucht hatte, als man Mitja gerade in dem Augenblick unter dem Verdacht eines furchtbaren Verbrechens festnahm, da sie seine Braut geworden war, und trotz der anschließenden Krankheit ihre frühere jugendliche Heiterkeit dennoch nicht verloren hatte. In ihren einstmals stolzen Augen schimmerte jetzt eine gewisse Sanftmut, obwohl manchmal schon wieder ein boshaftes Feuer in ihnen aufflammte, wenn nämlich eine frühere Sorge sie überkam, eine Sorge, die in ihrem Innern nicht erstorben, sondern noch gewachsen war. Der Gegenstand dieser Sorge war immer derselbe: Katerina Iwanowna, an die sich Gruschenka sogar in ihren Fieberträumen erinnert hatte. Aljoscha ahnte, daß Gruschenka wegen Mitja auf sie eifersüchtig war, obgleich Katerina Iwanowna ihn in seiner Haft nicht ein einziges Mal besucht hatte, was sie nach Belieben hätte tun können. Durch alles dies wurde Aljoscha vor eine schwierige Aufgabe gestellt, denn Gruschenka gewährte nur ihm Einblick in ihr Innerstes und fragte ständig um Rat; er aber war bisweilen einfach nicht imstande, ihr etwas Zweckdienliches zu sagen.

Sorgenvoll betrat er ihre Wohnung; sie war vor einer halben Stunde von Mitja zurückgekehrt. Schon an der schnellen Bewegung, mit der sie von ihrem Lehnsessel am Tisch aufsprang und ihm entgegeneilte, erkannte er, daß sie ihn mit großer Ungeduld erwartet hatte. Auf dem Tisch lagen Spielkarten, es war gerade gegeben worden. Auf dem Ledersofa an der anderen Seite des Tisches war ein Bett zurechtgemacht, auf dem im Schlafrock und baumwollener Nachtmütze, offenbar krank und matt, obwohl auch jetzt süßlich lächelnd, Maximow halb lag und halb saß. Dieser heimatlose alte Mann war, als er vor einem Monat mit Gruschenka aus Mokroje gekommen war, einfach bei ihr geblieben. Als er damals mit ihr in Regen und Schmutz angekommen war, setzte er sich, durchnäßt und ängstlich, auf das Sofa und blickte sie schweigend mit einem schüchternen, bittenden Lächeln an. Gruschenka, die großen Kummer hatte und bei der sich schon das Fieber ankündigte, vergaß ihn in der ersten halben Stunde nach der Ankunft fast gänzlich; dann sah sie ihn sich an; und er kicherte ihr kläglich und fassungslos ins Gesicht. Sie rief Fenja und befahl ihr, ihm etwas zu essen zu geben. Den ganzen Tag saß er auf seinem Platz, ohne sich zu rühren; als es dunkel wurde und die Fensterläden zugemacht wurden, fragte Fenja ihre Herrin: »Wie ist es, gnädiges Fräulein, wird er auch die Nacht hierbleiben?«

»Ja, mach ihm ein Bett auf dem Sofa zurecht!« antwortete Gruschenka.

Auf genauere Fragen erfuhr Gruschenka von ihm, daß er tatsächlich nicht wußte, wo er jetzt bleiben sollte! »Mein Wohltäter, Herr Kalganow«, sagte er, »hat mir geradeheraus erklärt, er wolle mich nicht mehr aufnehmen, und hat mir fünf Rubel geschenkt.«

»Na, dann bleib in Gottes Namen hier!« entschied Gruschenka und lächelte ihm mitleidig zu. Der Alte bekam davon ein Zucken im Körper, seine Lippen bebten, und er fing vor Dankbarkeit an zu weinen. So blieb also der vagabundierende Schmarotzer bei ihr. Selbst während ihrer Krankheit verließ er das Haus nicht. Fenja und ihre Mutter, Gruschenkas Köchin, jagten ihn nicht weg, sondern gaben ihm weiter zu essen und machten ihm weiterhin ein Bett auf dem Sofa zurecht. Allmählich gewöhnte sich Gruschenka sogar an ihn, und wenn sie von Mitja zurückkam (den sie, kaum genesen, ja noch ehe sie ordentlich gesund war, sofort besuchen ging), setzte sie sich hin und begann mit »Maximuschka« über allerlei Nichtigkeiten zu reden, nur um ihren Schmerz zu betäuben. Es stellte sich heraus, daß der Alte manchmal auch leidlich zu erzählen wußte, so daß er ihr schließlich unentbehrlich wurde. Außer Aljoscha, der jedoch nicht täglich und immer nur auf kurze Zeit kam, empfing Gruschenka fast niemand. Ihr alter Kaufmann lag zu dieser Zeit schon schwerkrank darnieder; er »war im Abgehen«, wie man in der Stadt sagte, und starb tatsächlich eine Woche nach der Gerichtsverhandlung über Mitja. Drei Wochen vor seinem Tode, als er fühlte, daß sein Ende nahe war, rief er endlich seine Söhne mit ihren Frauen und Kindern zu sich nach oben und befahl ihnen, nicht mehr von ihm wegzugehen. Ferner gab er den Dienern strengen Befehl, Gruschenka von nun an nicht mehr vorzulassen und ihr zu sagen: »Der Herr läßt Ihnen ein langes, fröhliches Leben wünschen, und Sie möchten ihn ganz und gar vergessen,« Doch Gruschenka schickte fast täglich hin, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen.

»Endlich ist er da!« rief sie, warf die Karten hin und begrüßte Aljoscha freudig! »Und Maximuschka hatte mir schon einen Schreck eingejagt, du würdest am Ende gar nicht kommen. Ach, ich brauche dich so! Setz dich an den Tisch. Was möchtest du, Kaffee?«

»Meinetwegen«, erwiderte Aljoscha, während er am Tisch Platz nahm! »Ich bin sehr hungrig.«

»Das ist ja schön. Fenja, Fenja, den Kaffee!« rief Gruschenka! »Er kocht schon lange und wartet auf dich … Und bringt auch die Pasteten herein, du mußt sie aber vorher heiß machen! Weißt du, Aljoscha, mit diesen Pasteten habe ich heute einen großen Krach erlebt. Ich brachte sie ihm ins Gefängnis, aber er schob sie zurück und hat keine davon gegessen. Eine Pastete warf er sogar auf den Fußboden und trat mit den Füßen darauf. Ich sagte zu ihm: ‚Ich werde sie beim Wächter lassen. Wenn du sie bis zum Abend nicht ißt, bedeutet das, du nährst dich von deiner giftigen Bosheit.‘ Und mit diesen Worten ging ich weg. Wir haben uns wieder gezankt, kannst du dir das vorstellen? Sooft ich zu ihm komme, zanken wir uns!«

Gruschenka sprudelte das alles in ihrer Erregung nur so heraus. Maximow lächelte sofort ängstlich und schlug die Augen nieder.

»Weswegen habt ihr euch diesmal gezankt?« fragte Aljoscha.

»Aus einem ganz unerwarteten Grund! Stell dir vor, er ist auf meinen ‚Früheren‘ eifersüchtig geworden. Er sagt: ‚Warum unterstützt du ihn? Du hast angefangen, ihn zu unterstützen?‘ Immer ist er eifersüchtig, immerzu meinetwegen eifersüchtig! Selbst wenn er schläft und ißt, ist er eifersüchtig. Sogar auf Kusma war er vorige Woche einmal eifersüchtig.«

»Aber er hat doch über den ‚Früheren‘ Bescheid gewußt?«

»Na, natürlich! Von Anfang an bis zum heutigen Tag hat er alles gewußt, aber heute kam es ihm auf einmal in den Sinn, darüber zu schimpfen. Ich schäme mich zu wiederholen, was er alles sagte. Der Dummkopf! Rakitka kam gerade zu ihm, als ich ging … Vielleicht hetzt der ihn auf, wie? Was meinst du?« fügte sie zerstreut hinzu.

»Er liebt dich, das ist es. Er liebt dich sehr. Und jetzt ist er ganz besonders aufgeregt.«

»Wie sollte er nicht aufgeregt sein, wo morgen die Gerichtsverhandlung über ihn stattfindet? Ich war extra mit der Absicht zu ihm gegangen, ihm für morgen ein ermunterndes Wort zu sagen; denn es ist schrecklich, auch nur daran zu denken, was morgen geschehen wird, Aljoscha! Du sagst, er ist aufgeregt. Aber wie aufgeregt bin ich selbst! Und da redet er von dem Polen! So ein Dummkopf! Auf Maximuschka hier wird er ja wohl nicht eifersüchtig sein?«

»Meine Frau war meinetwegen auch sehr eifersüchtig«, schaltete sich Maximow bescheiden ein.

»Na, dazu bist du gerade der Richtige!« rief Gruschenka, die unwillkürlich lachen mußte! »Auf wen war sie denn eifersüchtig?«

»Auf die Stubenmädchen.«

»Ach, sei still, Maximuschka, mir ist jetzt nicht nach Lachen zumute, ich bin wütend. Und wirf keine begehrlichen Blicke auf die Pasteten. Ich werde dir keine geben, sie bekommen dir nicht. Und den geliebten Lebensbalsam werde ich dir auch nicht geben … Da muß ich mich nun auch noch mit ihm abplagen als ob hier bei mir ein Armenhaus wäre«, fügte sie lachend hinzu.

»Ich verdiene Ihre Wohltaten nicht, ich bin auf der Welt zu nichts nutze«, sagte Maximow weinerlich! »Sie sollten Ihre Wohltaten besser denen zuwenden, die nützlicher sind als ich.«

»Ach was, jeder ist nützlich, Maximuschka, und woher soll man wissen, wer nützlicher ist als ein anderer? Wenn doch dieser Pole überhaupt nicht auf der Welt wäre, Aljoscha! Heute ist er nun ebenfalls auf den Einfall gekommen, krank zu werden. Ich bin bei ihm gewesen. Nun werde ich zum Trotz auch ihm Pasteten schicken. Ich hatte ihm keine geschickt, aber Mitja beschuldigte mich, ich hätte es getan. Nun werde ich ihm welche schicken, zum Trotz! Ach, da ist ja Fenja mit einem Brief! Na natürlich, wieder von den Polen, sie bitten wieder um Geld!«

Pan Mussialowicz hatte tatsächlich einen außerordentlich langen und wie immer schwülstigen Brief geschickt, in dem er bat, ihm drei Rubel zu leihen. Dem Brief war eine Quittung mit der Verpflichtung beigelegt, das Darlehen innerhalb von drei Monaten zurückzuzahlen; diese Quittung hatte auch Pan Wroblewski unterschrieben.

Solche Briefe, und immer mit Quittungen, hatte Gruschenka von ihrem »Früheren« schon viele erhalten. Angefangen hatte es gleich nach Gruschenkas Genesung, etwa vor zwei Wochen. Sie wußte jedoch, daß die beiden Polen auch während ihrer Krankheit häufig gekommen waren, um sich nach ihrem Befinden zu erkundigen. Der erste Brief, auf einen Briefbogen größten Formats geschrieben und mit einem großen Familiensiegel verschlossen, war sehr lang, furchtbar dunkel und hochtrabend gewesen, so daß Gruschenka nur die Hälfte gelesen und ihn dann weggeworfen hatte, da sie absolut nichts begriff. Auch hatte sie damals andere Gedanken im Kopf gehabt. Auf diesen ersten Brief war am nächsten Tag ein zweiter gefolgt, in dem Pan Mussialowicz bat, ihm für ganz kurze Zeit zweitausend Rubel zu leihen. Gruschenka hatte auch diesen Brief unbeantwortet gelassen. Dann war eine ganze Reihe von Briefen gefolgt, täglich einer, alle gleichermaßen hochtrabend und schwülstig; die als Darlehen erbetene Summe war jedoch allmählich kleiner geworden und auf zweihundert, dann fünfundzwanzig, dann zehn Rubel gesunken — zuletzt hatte Gruschenka einen Brief erhalten, in welchem die beiden Polen sie um einen einzigen Rubel baten und eine von ihnen beiden unterschriebene Quittung beilegten. Da hatte Gruschenka plötzlich Mitleid verspürt und war in der Dämmerung selbst zu Pan Mussialowicz gelaufen. Sie hatte die beiden Polen in äußerster Armut, in einer wahren Bettlerarmut, angetroffen, ohne Essen, ohne Feuerung, ohne Zigaretten und bei der Wirtin tief in Schulden. Die zweihundert Rubel, die sie Mitja in Mokroje abgewonnen hatten, waren schnell draufgegangen. Gruschenka hatte sich jedoch besonders darüber gewundert, daß die beiden Polen sie mit hochmütiger Grandezza, stolzem Selbstbewußtsein, größter Etikette und aufgeblasenen Phrasen empfingen. Gruschenka hatte darüber nur gelacht und ihrem »Früheren« zehn Rubel gegeben. Sie hatte diese Geschichte sofort lachend Mitja erzählt, und er war nicht im geringsten eifersüchtig geworden. Seitdem nun hatten sich die Polen an Gruschenka geklammert und sie tagtäglich mit Bettelbriefen bombardiert, und sie hatte ihnen jedesmal eine Kleinigkeit geschickt. Und heute war es Mitja plötzlich eingefallen, eifersüchtig zu werden.

»Ich Idiotin war auch wirklich bei ihm, nur für ein Augenblickchen, bevor ich zu Mitja ging; denn er, mein Früherer, war ebenfalls krank geworden«, begann Gruschenka wieder hastig! »Und ich erzählte Mitja das lachend. ‚Stell dir vor‘, sagte ich, ‚mein Pole hat mir zur Gitarre die Lieder von früher vorgesungen! Er denkt wohl, ich werde gerührt und heirate ihn?‘ Da sprang Mitja wütend auf und fing an zu schimpfen … Nun werde ich zum Trotz den Polen Pasteten schicken! Fenja, haben sie wieder das kleine Mädchen hergeschickt? Hier, gib ihr diese drei Rubel, wickle zehn Pasteten in Papier und sag ihr, sie soll sie ihnen bringen. Und du, Aljoscha, mußt Mitja auf alle Fälle erzählen, daß ich ihnen Pasteten geschickt habe!«

»Das werde ich ihm auf keinen Fall erzählen!« erwiderte Aljoscha lächelnd.

»Ach, glaubst du etwa, daß er sich quält? Er stellt sich nur absichtlich eifersüchtig, in Wirklichkeit ist ihm alles ganz gleichgültig«, sagte Gruschenka bitter.

»Er stellt sich nur so?« fragte Aljoscha.

»Du bist dumm, Aljoschenka. Weißt du, bei all deinem Verstand verstehst du hiervon nichts. Mich kränkt es nicht, daß er meinetwegen eifersüchtig ist, kränken würde es mich vielmehr, wenn er überhaupt nicht eifersüchtig wäre. Das liegt so in meinem Charakter. Durch Eifersucht fühle ich mich nicht gekränkt; ich habe selber ein wildes Herz und bin selber eifersüchtig. Kränkend ist nur, daß er mich überhaupt nicht liebt und sich absichtlich eifersüchtig stellt! Bin ich etwa blind? Sehe ich nicht, was vorgeht? Er fängt jetzt auf einmal an, mir von diesem Fräulein, von Katka, zu erzählen, was sie für ein gutes Wesen ist. ‘Einen Arzt hat sie für mich aus Moskau geholt, um mich zu retten, und auch den berühmtesten, geschicktesten Rechtsanwalt hat sie kommen lassen.‘ Also liebt er sie, wenn er sie vor mir so schamlos lobt! Er selber ist mir untreu geworden, und nun sucht er Streit mit mir, um die Sache so darzustellen, als wäre ich ihm schon vorher untreu geworden, und um mir allein die Schuld zuzuschreiben! ‚Du hast es schon vorher mit dem Polen getrieben, also ist es mir jetzt auch mit Katka erlaubt!‘ So steht die Sache! Er will die ganze Schuld auf mich abwälzen. Absichtlich sucht er Streit, absichtlich, sage ich dir! Aber ich werde …«

Gruschenka sprach nicht zu Ende, was sie tun würde. Sie bedeckte die Augen mit dem Taschentuch und schluchzte heftig.

»Er liebt Katerina Iwanowna nicht«, sagte Aljoscha mit Bestimmtheit.

»Ob er sie liebt oder nicht, werde ich bald selbst erfahren«, antwortete Gruschenka in einem leicht drohenden Ton und nahm das Tuch von den Augen.

Ihr Gesicht sah ganz entstellt aus; Aljoscha sah betrübt, wie sich ihr Gesicht aus einem sanften, ruhig-heiteren plötzlich in ein finsteres und böses verwandelt hatte.

»Nun genug von diesen Dummheiten!« brach sie kurz ab! »Ich habe dich aus einem ganz anderen Grund hergebeten. Aljoscha, Täubchen, morgen, was wird morgen geschehen? Das ist es, was mich quält! Und ich bin die einzige, die das quält! Ich sehe sie alle an: Kein Mensch denkt daran, keinen scheint es etwas anzugehen. Denkst du wenigstens daran? Morgen wird das Urteil über ihn gefällt! Erkläre du mir, wie sie über ihn zu Gericht sitzen können! Den Mord hat doch der Diener begangen, der Diener! O Gott! Werden sie wirklich ihn an Stelle des Dieners verurteilen? Und wird ihn niemand verteidigen? Sie haben ja wohl den Diener überhaupt nicht behelligt, wie?«

»Man hat ihn streng verhört«, sagte Aljoscha trüb! »Aber alle kamen zu der Überzeugung, daß er es nicht gewesen ist. Jetzt liegt er schwerkrank darnieder. Er ist seit damals krank, seit dem epileptischen Anfall. Er ist tatsächlich krank«, fügte Aljoscha hinzu.

»O Gott, du solltest doch selber zu diesem Rechtsanwalt gehen und ihm alles persönlich erzählen. Er soll doch für dreitausend Rubel extra aus Petersburg geholt worden sein …«

»Die dreitausend Rubel haben wir zu dritt gegeben: ich, mein Bruder Iwan und Katerina Iwanowna; den Moskauer Arzt hat sie allein für zweitausend Rubel engagiert. Der Rechtsanwalt Fetjukowitsch hätte eigentlich mehr verlangt; doch dieser Prozeß hat in ganz Rußland Berühmtheit erlangt und wird in allen Zeitungen und Journalen besprochen, da hat Fetjukowitsch mehr um des Ruhmes und des Aufsehens willen eingewilligt zu kommen. Ich habe ihn gestern gesehen.«

»Nun, und? Hast du mit ihm gesprochen?« rief Gruschenka hastig.

»Er hörte mich an und sagte nichts. Er sagte, er habe sich schon eine bestimmte Meinung gebildet. Aber er versprach, meine Worte in Erwägung zu ziehen.«

»In Erwägung zu ziehen! Diese Gauner! Sie werden ihn zugrunde richten! Na und den Arzt, warum hat sie den hergeholt?«

»Als Sachverständigen. Sie wollen beweisen, daß mein Bruder verrückt ist und den Mord in geistiger Umnachtung begangen hat«, sagte Aljoscha mit einem leisen Lächeln! »Aber mein Bruder ist damit nicht einverstanden.«

»Aber das wäre doch die Wahrheit — wenn er überhaupt den Mord begangen hätte!« rief Gruschenka! »Er war damals geistesgestört, völlig geistesgestört, und ich war daran schuld! Aber er hat den Mord ja gar nicht begangen! Und alle sagen sie gegen ihn aus, daß er ihn begangen hat, die ganze Stadt. Sogar Fenja, die hat auch so ausgesagt, daß es herauskommt, als ob er den Mord begangen hätte. Und die in dem Kaufladen und dieser Beamte! Und schon vorher im Restaurant haben es alle gehört! Alle, alle sind sie gegen ihn, sie lärmen und toben nur so!«

»Ja, die belastenden Aussagen haben sich schrecklich vermehrt«, bemerkte Aljoscha finster.

»Und Grigori Wassiljewitsch, der bleibt auch dabei, daß die Tür offengestanden habe! Er behauptet steif und fest, das gesehen zu haben, und läßt sich davon nicht abbringen. Ich bin zu ihm gelaufen und habe selber mit ihm geredet. Er beschimpft einen sogar!«

»Ja, das ist vielleicht die belastendste Aussage gegen den Bruder«, sagte Aljoscha.

»Und was Mitjas Geistesgestörtheit betrifft — er ist ja jetzt noch genauso«, begann Gruschenka auf einmal mit besonders sorgenvoller und geheimnisvoller Miene! »Weißt du, Aljoschenka, ich wollte mit dir schon längst darüber sprechen. Ich gehe alle Tage zu ihm und bin geradezu starr vor Staunen. Was meinst du, wovon er jetzt immerzu redet? Er redet und redet — ich kann nichts verstehen! Ich habe schon gedacht, er redet womöglich etwas Gescheites, und ich kann es in meiner Dummheit nicht verstehen! Er sprach auf einmal von einem ‚Kindelein‘, von einem kleinen Kind. ‘Warum‘, sagte er, ‚ist das ‚Kindelein‘ arm? Für dieses Kindelein werde ich jetzt nach Sibirien gehen. Ich habe nicht gemordet, aber ich muß nach Sibirien gehen!‘ Was das bedeuten soll, was das für ein ‚Kindelein‘ sein soll, das ist mir völlig unverständlich. Ich brach in Tränen aus, als er das sagte, weil er es so schön sagte! Er selber weinte, und ich weinte auch. Was bedeutet das, Aljoscha? Erkläre mir das, was ist das für ein ‚Kindelein‘?«

»Rakitin hat jetzt, ich weiß nicht warum, angefangen, ihn zu besuchen«, erwiderte Aljoscha lächelnd! »Aber das hat doch wohl nichts mit Rakitin zu tun … Ich bin gestern nicht bei ihm gewesen, heute will ich wieder zu ihm gehen.«

»Nein, das hat nichts mit Rakitin zu tun; das setzt ihm sein Bruder Iwan Fjodorowitsch in den Kopf, der besucht ihn, das ist es …«, sagte Gruschenka, verstummte dann jedoch plötzlich. Aljoscha starrte sie erstaunt an.

»Er besucht ihn? Tut er das wirklich? Mitja hat mir gesagt, Iwan wäre noch kein einziges Mal zu ihm gekommen.«

»Na ja, da sieht man, was ich für eine bin! Ich habe mich verschnappt!« rief Gruschenka verlegen; sie war auf einmal ganz rot geworden! »Wart mal, Aljoscha, wo ich mich nun doch verschnappt habe, will ich auch die ganze Wahrheit sagen. Er ist zweimal bei ihm gewesen. Das erstemal, gleich nachdem er damals aus Moskau gekommen war, ich war da noch nicht bettlägerig; und das zweitemal besuchte er ihn eine Woche später. Er verbot Mitja aber, dir etwas davon zu sagen, das verbot er ihm ausdrücklich. Er sollte es überhaupt niemandem sagen. Er wollte, daß seine Besuche ein Geheimnis bleiben.«

Aljoscha saß gedankenversunken da und überlegte. Diese Nachricht hatte auf ihn offenbar starken Eindruck gemacht.

»Iwan spricht mit mir nicht über Mitjas Angelegenheit«, sagte er langsam! »Und überhaupt hat er mit mir in diesen ganzen zwei Monaten nur sehr wenig gesprochen. Wenn ich zu ihm kam, war er über mein Kommen immer so mißvergnügt, daß ich seit drei Wochen gar nicht mehr zu ihm gehe. Hm … Wenn er vor einer Woche da war, dann … In dieser Woche ist mit Mitja tatsächlich eine Veränderung vorgegangen …«

»Jawohl eine Veränderung!« fiel Gruschenka schnell ein! »Sie haben ein Geheimnis! Mitja hat mir selbst gesagt, daß es da ein Geheimnis gibt. Weißt du, es ist so ein Geheimnis, daß er sich gar nicht mehr beruhigen kann. Aber er war doch früher heiter, und er ist es eigentlich auch jetzt noch — nur, weißt du, wenn er anfängt, den Kopf zu schütteln, und dann im Zimmer auf und ab geht und sich mit dem rechten Zeigefinger und dem Daumen hier an der Schläfe am Haar zupft, dann weiß ich schon, daß eine Unruhe ihn gepackt hat, das weiß ich dann schon! Er war doch sonst heiter, und auch jetzt ist er es noch!«

»Aber du sagtest doch, er sei aufgeregt?«

»Er ist sehr aufgeregt, aber auch heiter. Er ist vorwiegend aufgeregt, aber für Augenblicke wird er heiter, und dann gerät er auf einmal wieder in Aufregung. Und weißt du, Aljoscha, ich muß mich immer über ihn wundern: Ihm steht etwas Furchtbares bevor, und trotzdem lacht er manchmal über nichtige Dinge wie ein kleines Kind!«

»Und es ist wahr, daß er dir verboten hat, mir etwas von Iwans Besuchen zu sagen? Hat er ausdrücklich gesagt: ‚Sag ihm nichts davon‘?«

»Ja, so hat er gesagt: ‚Sag ihm nichts davon!‘ Vor dir hat Mitja ganz besonders Angst. Denn ein Geheimnis gibt es, das hat er selber gesagt … Aljoscha, Täubchen, geh hin und bring es heraus, was sie für ein Geheimnis miteinander haben, und dann komm und sag es mir!« fuhr Gruschenka plötzlich flehend auf Aljoscha los! »Klär mich auf, damit ich mein Schicksal erfahre! Deswegen habe ich dich rufen lassen!«

»Du meinst, daß sich dieses Geheimnis irgendwie auf dich bezieht? Wenn dem so wäre, hätte er dir doch überhaupt nichts von einem Geheimnis gesagt.«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht möchte er es gerade mir sagen und wagt es nur nicht. Er bereitet mich vor. Er sagt: ‚Es gibt da ein Geheimnis.‘ Nur was für ein Geheimnis, das sagt er nicht.«

»Was denkst du selbst davon?«

»Was ich davon denke? Daß mein Ende gekommen ist, das denke ich. Alle drei sind eifrig bemüht gewesen, mir mein Ende zu bereiten; denn Katka steckt auch dahinter. Katka ist dabei die Hauptperson, von ihr geht alles aus. ‘Was ist sie für ein gutes Wesen‘ — das bedeutet, daß ich keins bin. Das sagt er, um mich vorzubereiten. Er will sich von mir lossagen, das ist das ganze Geheimnis! Das haben sich alle drei zusammen ausgedacht: Mitka, Katka und Iwan Fjodorowitsch. Aljoscha, ich wollte dich schon längst fragen: Vor einer Woche hat er mir auf einmal auch eröffnet, Iwan müsse in Katka verliebt sein, weil er so oft zu ihr gehe. Hat er mir da die Wahrheit gesagt oder nicht? Sag es mir bei deinem Gewissen, schenk mir reinen Wein ein!«

»Ich werde dich nicht belügen. Iwan ist nicht in Katerina Iwanowna verliebt, das ist meine Überzeugung.«

»Na, das habe ich mir gleich gedacht! Er lügt mir etwas vor, der Schamlose, so steht die Sache! Und er tut jetzt meinetwegen eifersüchtig, um mir nachher die Schuld zuzuschieben. Er ist ja ein Dummkopf und kann nichts verheimlichen, so offenherzig ist er … Aber ich werde es ihm zeigen. Er sagt: ‚Du glaubst, daß ich den Mord begangen habe.‘ Das sagt er zu mir, mir macht er so einen Vorwurf! Gott möge es ihm verzeihen! Na warte, das werde ich Katka vor Gericht heimzahlen! Ich werde da etwas sagen, was ihr nicht gefallen wird … Ich werde alles sagen!«

Und sie fing wieder bitterlich an zu weinen.

»Hör zu, zweierlei kann ich dir mit aller Bestimmtheit versichern, Gruschenka«, sagte Aljoscha und stand auf! »Erstens, daß er dich liebt, mehr als alles auf der Welt, und nur dich, das kannst du mir glauben. Ich weiß es. Ich weiß es genau. Zweitens will ich dir sagen, daß ich ihm sein Geheimnis nicht entlocken werde; sollte er es mir von selber sagen, werde ich ihm geradeheraus erklären, daß ich versprochen habe, es dir mitzuteilen. Dann werde ich zu dir kommen und es dir sagen. Nur scheint mir, von Katerina Iwanowna ist dabei gar nicht die Rede, das Geheimnis wird sich auf etwas ganz anderes beziehen. Es sieht nicht danach aus, daß es Katerina Iwanowna betrifft — das ist meine Ansicht. Einstweilen lebe wohl!«

Aljoscha drückte ihr die Hand, Gruschenka weinte immer noch. Er sah, daß sie seinen Tröstungen wenig Glauben schenkte, sich aber schon dadurch erleichtert fühlte, daß sie wenigstens jemandem ihr Leid geklagt und sich ausgesprochen hatte. Es tat ihm weh, sie in diesem Zustand verlassen zu müssen, aber er hatte es eilig. Er hatte noch vieles zu erledigen.