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8. Dritter und letzter Besuch bei Smerdjakow

Er hatte erst die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sich ein scharfer, trockener Wind erhob, ein Wind wie am Morgen des Tages, und feinen, dichten, trockenen Schnee herabschüttete. Der Schnee fiel auf die Erde, ohne an ihr zu haften; der Wind wirbelte ihn wieder in die Höhe, und bald bildete sich ein richtiger Schneesturm heraus. In dem Stadtteil, wo Smerdjakow wohnte, gibt es bei uns fast keine Laternen. Iwan Fjodorowitsch lief durch die Dunkelheit, ohne den Schneesturm zu beachten, instinktiv seinen Weg suchend. Der Kopf tat ihm weh, und das Blut hämmerte ihm schmerzhaft in den Schläfen, in den Händen fühlte er einen Krampf. Er hatte Marja Kondratjewnas Häuschen noch nicht ganz erreicht, als er vor sich einen einsamen Betrunkenen bemerkte, einen nicht sehr großen Bauern in einem zerlumpten Kittel. Der Bauer ging im Zickzack, brummte vor sich hin und schimpfte; doch auf einmal hörte er auf zu schimpfen und begann mit heiserer, trunkener Stimme zu singen:

»Ach, mein Wanka ging nach Piter,
und er kommt so bald nicht wieder …«

Nach dieser zweiten Zeile brach er immer ab und begann wieder über irgend etwas zu schimpfen; darauf stimmte er dann wieder dasselbe Lied an. Iwan Fjodorowitsch war schon seit einer Weile wütend auf ihn, ohne daß er eigentlich richtig an den armen Kerl gedacht hätte; plötzlich aber wurde er bewußt auf ihn aufmerksam, und sogleich packte ihn ein unwiderstehliches Verlangen, den Bauern durch einen Faustschlag zu Boden zu schmettern. Als er ihn eingeholt hatte, prallte der Bauer, der stark schwankte, mit voller Kraft gegen Iwan. Der stieß ihn wütend zurück. Der Bauer taumelte ein paar Schritte und fiel wie ein Klotz auf die hartgefrorene Erde; er stöhnte nur einmal schmerzlich auf und war dann still. Iwan trat zu ihm. Er lag mit dem Gesicht nach unten da, regungslos und ohne Bewußtsein. ‚Sicher wird er erfrieren‘, dachte Iwan und setzte seinen Weg zu Smerdjakow fort.

Marja Kondratjewna, die mit einem Licht in der Hand herauskam, um zu öffnen, flüsterte ihm schon auf dem Flur zu, Pawel Fjodorowitsch, also Smerdjakow, sei sehr krank; er liege zwar nicht im Bett, scheine aber nicht ganz bei Verstand zu sein; auch seinen Tee habe er nicht trinken wollen, sondern ihn wieder hinaustragen lassen.

»Und tobt er etwa auch?« fragte Iwan Fjodorowitsch barsch.

»Nicht doch, im Gegenteil, er ist ganz still. Aber reden Sie mit ihm nur nicht allzu lange!« bat Marja Kondratjewna.

Iwan Fjodorowitsch öffnete die Tür und ging in die Stube.

Geheizt war dort ebenso stark wie das erstemal; in der Stube waren jedoch mehrere Veränderungen eingetreten. Eine der Seitenbänke war hinausgetragen worden, und an ihrer Stelle stand ein großes, altes Ledersofa mit imitiertem Mahagoni. Darauf war ein Bett zurechtgemacht, dessen weiße Kissen ziemlich sauber waren. Auf dem Bett saß Smerdjakow, wieder in demselben Schlafrock. Der Tisch war vor das Sofa gerückt, so daß es in der Stube sehr eng geworden war. Auf dem Tisch lag ein dickes Buch mit gelbem Umschlag. Smerdjakow las aber nicht darin; er schien untätig dazusitzen. Er empfing Iwan Fjodorowitsch mit einem langen, stummen Blick und wunderte sich offenbar gar nicht über dessen Kommen. Im Gesicht hatte er sich sehr verändert; er war mager und gelb geworden, und seine Augen waren eingesunken und hatten blaue Ränder.

»Bist du ernstlich krank?« fragte Iwan Fjodorowitsch! »Ich werde dich nicht lange aufhalten und nicht einmal den Überzieher ablegen. Wo kann man sich denn bei dir setzen?«

Er ging zum anderen Ende des Tisches, rückte einen Stuhl an den Tisch und setzte sich.

»Warum siehst du mich so stumm an? Ich bin nur mit einer Frage hergekommen, und ich schwöre dir, ich werde dich nicht verlassen, bevor ich eine Antwort erhalten habe! Ist Fräulein Katerina Iwanowna bei dir gewesen?«

Smerdjakow schwieg lange und starrte Iwan weiterhin still an; doch machte er auf einmal eine wegwerfende Handbewegung und wandte das Gesicht ab.

»Was hast du?« rief Iwan.

»Nichts.«

»Was ist das für eine Antwort?«

»Na ja, sie ist hiergewesen. Aber das kann Ihnen doch ganz gleichgültig sein. Lassen Sie mich in Ruhe!«

»Nein, ich werde dich nicht in Ruhe lassen! Rede, wann ist sie hiergewesen?«

»Ich kann mich gar nicht mehr an sie erinnern«, sagte Smerdjakow mit einem verächtlichen Lächeln, wandte plötzlich sein Gesicht wieder Iwan zu und warf einen wütenden und haßerfüllten Blick auf ihn, genauso wie bei Iwans Besuch vor einem Monat.

»Sie scheinen ja selber krank zu sein. Was sind Sie mager geworden! Ihr Gesicht sieht ganz entstellt aus!« sagte er zu Iwan.

»Laß mein Befinden beiseite und antworte auf das, wonach du gefragt wirst.«

»Woher sind bloß Ihre Augen so gelb geworden? Die Augäpfel sehen ja ganz gelb aus. Sie quälen sich wohl sehr mit bösen Gedanken?«

Er lächelte herablassend und lachte dann auf einmal laut los.

»Hör mal, ich habe dir gesagt, daß ich dich ohne eine Antwort nicht verlassen werde!« rief Iwan überaus erregt.

»Warum setzen Sie mir so zu? Warum quälen Sie mich?« sagte Smerdjakow mit schmerzerfüllter Miene.

»Hol‘ dich der Teufel! Deine Person ist mir ganz gleichgültig. Antworte auf meine Frage, und ich werde sofort gehen.«

»Ich habe Ihnen nichts zu antworten!« erwiderte Smerdjakow und schlug die Augen wieder zu Boden.

»Ich versichere dir, daß ich dich zwingen werde, zu antworten!«

»Warum beunruhigen Sie sich denn immerzu?« antwortete Smerdjakow und sah ihn wieder an, jetzt aber nicht nur verächtlich, sondern beinahe schon angeekelt! »Etwa weil morgen die Gerichtsverhandlung stattfindet? Es wird Ihnen ja nichts passieren, glauben Sie das doch endlich! Gehen Sie nach Hause, legen Sie sich ruhig schlafen, und haben Sie keine Angst!«

»Ich verstehe dich nicht … Was sollte ich denn morgen zu fürchten haben?« fragte Iwan erstaunt, und auf einmal wehte ihn wirklich ein kalter Schauder an.

Smerdjakow musterte ihn lange.

»Sie ver-ste-hen nicht?« erwiderte er gedehnt in vorwurfsvollem Ton! »Wie kann es nur einem klugen Menschen Spaß machen, so eine Komödie aufzuführen?«

Iwan blickte ihn schweigend an. Schon der überraschende, unerhört hochmütige Ton, in dem sein früherer Diener jetzt mit ihm verkehrte, war ungewöhnlich. Dieses Tones hatte er sich sogar das vorige Mal nicht bedient.

»Ich sage Ihnen, Sie haben nichts zu fürchten. Ich werde nichts gegen Sie aussagen, also wird gegen Sie nichts Belastendes vorliegen. Nun sehen Sie bloß, wie Ihnen die Hände zittern! Warum fahren denn Ihre Finger so hin und her? Gehen Sie nach Hause — Sie haben den Mord nicht begangen.«

Iwan zuckte zusammen, ihm fielen Aljoschas Worte ein.

»Ich weiß, daß ich ihn nicht …«, begann er.

»Das wis-sen Sie?« unterbrach ihn Smerdjakow.

Iwan sprang auf und packte ihn an der Schulter! »Sag alles, du ekelhaftes Subjekt! Sag alles!«

Smerdjakow war nicht im mindesten erschrocken. Er blickte ihn nur mit wildem Haß unverwandt an.

»Na, wenn ich alles sagen soll: Sie haben den Mord begangen, Sie!« flüsterte er ihm böse zu.

Iwan ließ sich auf den Stuhl zurücksinken und tat, als überlegte er etwas; dabei lächelte er boshaft.

»Du redest immer noch von dem, worüber wir das vorige Mal sprachen?«

»Als Sie das vorige Mal vor mir standen, verstanden Sie alles, und jetzt verstehen Sie es auch.«

»Ich verstehe nur, daß du verrückt bist.«

»Daß Ihnen das nicht zum Halse heraushängt! Wir reden hier unter vier Augen; man möchte meinen, wozu sollten wir uns gegenseitig etwas vormachen und Komödie spielen? Oder wollen Sie immer noch die ganze Schuld auf mich wälzen, und das mir mitten ins Gesicht! Sie haben den Mord begangen, Sie sind der Hauptmörder! Ich bin nur Ihr Handlanger gewesen, Ihr treuer Diener. Ich habe nur die Tat nach Ihrer Anweisung ausgeführt.«

»Ausgeführt? Hast du etwa den Mord begangen?« fragte Iwan. Es überlief ihn kalt.

Es war ihm, als ob in seinem Gehirn eine Erschütterung stattfände, und ein leises, kaltes Zittern ergriff seinen ganzen Körper. Nun staunte selbst Smerdjakow, wahrscheinlich überraschte ihn Iwans Schrecken schließlich durch seine ungeheuchelte Echtheit.

»Aber haben Sie denn wirklich nichts gewußt?« fragte er mißtrauisch, wobei er ihm mit einem schiefen Lächeln in die Augen blickte. Iwan sah ihn immer noch an; er schien die Sprache verloren zu haben.

»Ach, mein Wanka ging nach Piter, und er kommt so bald nicht wieder …«

tönte es auf einmal in seinem Kopf.

»Weißt du was? Ich fürchte, daß du ein Traum bist, daß du als Gespenst vor mir sitzt«, stammelte er.

»Hier ist kein Gespenst. Hier sind nur wir beide und noch ein gewisser Dritter. Ohne Zweifel ist er jetzt hier, dieser Dritte. Er befindet sich zwischen uns beiden.«

»Wer ist es? Wer befindet sich hier? Wer ist der Dritte?« fragte Iwan Fjodorowitsch erschrocken, wobei er sich nach allen Seiten umsah und hastig jemanden suchte.

»Dieser Dritte ist Gott; die Vorsehung selbst. Sie ist jetzt hier neben uns, aber suchen Sie sie nicht, Sie werden sie nicht finden.«

»Du lügst, wenn du behauptest, daß du den Mord begangen hast!« schrie Iwan wütend! »Du bist entweder verrückt, oder du hast mich zum besten wie das vorige Mal!«

Smerdjakow erschrak wieder nicht im geringsten; er sah den anderen weiterhin prüfend an. Er konnte sein Mißtrauen noch immer nicht überwinden; noch immer schien ihm, daß Iwan »alles wußte« und sich nur verstellte, um »die ganze Schuld auf ihn zu wälzen, und das ihm mitten ins Gesicht«.

»Warten Sie mal«, sagte er endlich mit schwacher Stimme, zog sein linkes Bein unter dem Tisch hervor und begann die Hose aufzukrempeln. Das Bein steckte in einem langen, weißen Strumpf; am Fuß saß ein Pantoffel. Ohne jede Eile band Smerdjakow das Strumpfband ab und fuhr mit den Fingern tief in den Strumpf hinein. Iwan Fjodorowitsch sah ihm zu und begann auf einmal vor panischer Angst zu zittern.

»Du Verrückter!« schrie er und sprang von seinem Platz auf. Er taumelte jedoch zurück, so daß er mit dem Rücken gegen die Wand stieß, und blieb nun sozusagen an der Wand kleben, an der er sich in seiner ganzen Länge aufrichtete. Entsetzt starrte er Smerdjakow an.

Dieser wühlte, ohne sich durch Iwan Fjodorowitschs Schreck stören zu lassen, immer noch in seinem Strumpf herum, als bemühte er sich, darin etwas mit den Fingern zu fassen und herauszuziehen. Endlich hatte er es gefaßt und zog es heraus. Iwan Fjodorowitsch sah, daß es irgendwelche Papiere waren oder vielmehr ein Päckchen Papiere. Smerdjakow zog es heraus und legte es auf den Tisch.

»Da ist es!« sagte er leise.

»Was?« fragte Iwan zitternd.

»Sehen Sie doch selber nach!« sagte Smerdjakow ebenso leise.

Iwan trat an den Tisch, nahm das Päckchen und begann es auseinanderzufalten. Auf einmal zog er jedoch die Finger zurück, als hätte er ein ekelhaftes Reptil berührt.

»Die Finger zittern Ihnen ja immer noch krampfhaft«, bemerkte Smerdjakow und faltete selbst den Umschlag auseinander. Es kamen drei Päckchen regenbogenfarbener Hundertrubelscheine zum Vorschein.

»Hier sind sie alle, die ganzen dreitausend Rubel; Sie brauchen nicht nachzuzählen. Nehmen, Sie sie!« forderte er Iwan auf. Dieser ließ sich auf den Stuhl sinken; er war bleich wie Leinwand.

»Du hast mich erschreckt mit diesem Strumpf …«, sagte er mit einem sonderbaren Lächeln.

»Haben Sie es wirklich bis jetzt nicht gewußt, wirklich nicht?« fragte Smerdjakow noch einmal.

»Nein, ich habe es nicht gewußt. Ich habe immer an Dmitri gedacht. Bruder! Bruder!« Er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf! »Sag, hast du den Mord allein begangen? Ohne meinen Bruder oder mit meinem Bruder zusammen?«

»Nur mit Ihnen zusammen. Mit Ihnen zusammen habe ich den Mord begangen! Dmitri Fjodorowitsch ist ganz unschuldig.«

»Gut, gut … Zu mir später! Warum zittere ich nur am ganzen Körper? Ich kann kein Wort herausbringen.«

»Damals waren Sie wer weiß wie kühn und sagten: ‚Alles ist erlaubt!‘ Und was haben Sie jetzt für einen Schreck bekommen!« sagte Smerdjakow verwundert! »Wollen Sie nicht ein Glas Limonade? Ich werde sofort welche bestellen. Die erfrischt sehr. Nur müssen wir das hier vorher zudecken.«

Er deutete wieder mit dem Kopf auf die Päckchen. Er wollte aufstehen, um aus der Tür Marja Kondratjewna zu rufen, damit sie Limonade brächte, suchte jedoch vorher etwas, womit er das Geld zudecken konnte.

Er zog zuerst sein Taschentuch heraus; aber das war wieder ganz vollgeschneuzt. Deshalb nahm er das dicke, gelbe Buch vom Tisch, das Iwan beim Eintritt bemerkt hatte, und deckte damit das Geld zu. Der Titel des Buches lautete: »Reden unseres heiligen Vaters Isaak Sirin«; Iwan Fjodorowitsch las ihn mechanisch.

»Ich will keine Limonade«, sagte er! »Zu mir später! Setz dich hin und erzähle! Wie hast du das alles ausgeführt? Sag mir alles …«

»Sie sollten wenigstens den Überzieher ausziehen, sonst werden Sie noch ganz in Schweiß geraten.«

Iwan Fjodorowitsch riß sich, als käme ihm dieser Gedanke erst jetzt, den Überzieher vom Körper und warf ihn auf die Bank.

»So rede doch, bitte! Rede!«

Er schien ganz ruhig geworden zu sein. Er erwartete mit Bestimmtheit, daß Smerdjakow jetzt »alles« sagte.

»Wie ich das alles ausgeführt habe?« begann Smerdjakow mit einem Seufzer! »Auf die allernatürlichste Weise habe ich es ausgeführt, ganz nach Ihren Worten von damals …«

»Zu meinen Worten später!« unterbrach ihn Iwan wieder, aber er schrie nicht mehr wie vorher, sondern sprach die Worte fest und bestimmt aus und schien sich wieder ganz in der Gewalt zu haben! »Erzähle ganz genau, wie du es ausgeführt hast. Alles der Reihe nach! Laß nichts aus! Die Einzelheiten sind das Wichtigste, die Einzelheiten. Ich bitte dich darum.«

»Als Sie weggefahren waren, da fiel ich in den Keller …«

»In einem richtigen Anfall, oder hast du simuliert?«

»Selbstverständlich habe ich simuliert. Ich simulierte alles. Ich stieg ruhig die Treppe hinab, bis ganz unten, und legte mich hin; dann erst schrie ich los. Und während sie mich hinaustrugen, schlug ich um mich.«

»Moment! Hast du die ganze Zeit über simuliert, auch nachher im Krankenhaus?«

»Keineswegs. Am anderen Tag bekam ich morgens, noch bevor sie mich ins Krankenhaus brachten, einen echten Anfall, und zwar so stark, wie schon seit vielen Jahren nicht mehr. Zwei Tage war ich völlig bewußtlos.«

»Gut, gut. Weiter!«

»Sie legten mich auf das Bett hinter der Bretterwand. Das wußte ich schon vorher, daß sie mich dahin legen würden, weil Marfa Ignatjewna mich jedesmal, wenn ich krank war, dort bei sich bettete. Sie ist immer sehr zärtlich zu mir gewesen, von meiner Geburt an … In der Nacht stöhnte ich, aber nur leise. Ich wartete immer auf Dmitri Fjodorowitsch.«

»Wie meinst du das? Hast du erwartet, daß er zu dir kam?«

»Warum zu mir? Ich erwartete, daß er zum Haus kam; ich zweifelte nicht im geringsten daran, daß er in dieser Nacht erscheinen würde. Denn da er nun meiner Beihilfe beraubt und ohne Nachrichten war, mußte er unbedingt selber zum Haus kommen, über den Zaun, den er überklettern konnte, und mußte irgend etwas verüben.«

»Und wenn er nun nicht gekommen wäre?«

»Dann wäre auch nichts passiert. Ohne ihn hätte ich mich nicht dazu entschlossen.«

»Gut, gut … Erzähle verständlicher, übereile dich nicht! Und was die Hauptsache ist, laß nichts aus.«

»Ich erwartete, daß er Fjodor Pawlowitsch totschlagen würde, das hielt ich für sicher. Denn ich hatte schon die letzten Tage in diesem Sinn auf ihn eingewirkt — und ihm vor allen Dingen die bewußten Signale mitgeteilt. Bei seinem Mißtrauen und bei der Wut, die sich bei ihm in diesen Tagen angesammelt hatte, war mit Bestimmtheit zu erwarten, daß er mittels der Signale in das Haus eindringen würde. Da war ich mir sicher. Und darum habe ich ihn auch erwartet.«

»Halt«, unterbrach ihn Iwan! »Hätte er ihn nun totgeschlagen, so hätte er sich ja des Geldes bemächtigt und es mitgenommen, das mußtest du doch annehmen? Was hättest du dann von der Tat gehabt? Das sehe ich nicht ein.«

»Er hätte ja das Geld niemals gefunden. Daß das Geld unter der Matratze lag, hatte ich ihm ja nur eingeredet. Aber das stimmte nicht. Ursprünglich hatte es in der Schatulle gelegen, sehen Sie, so war das. Aber dann hatte ich, der einzige Mensch auf der Welt, dem er traute, Fjodor Pawlowitsch dazu überredet, dieses Päckchen mit dem Geld lieber in der Ecke hinter den Heiligenbildern zu verstecken, weil es dort niemand finden würde, vor allem, wenn es einer eilig hatte. So steckte also dieses Päckchen in der Ecke hinter den Heiligenbildern. Es unter der Matratze aufzubewahren, wäre sowieso lächerlich gewesen, eher schon in der Schatulle, die wenigstens verschlossen war. Hier glauben aber jetzt alle, es hätte unter der Matratze gelegen. Eine ganz dumme Annahme … Nach diesem Mord wäre also Dmitri Fjodorowitsch, da er nichts gefunden hätte, entweder eilig davongelaufen, aus Furcht vor jedem Geräusch, wie das immer so bei Mördern ist — oder er wäre festgenommen worden. Dann hätte ich immer noch am nächsten Tag oder vielleicht sogar noch in derselben Nacht hinter die Heiligenbilder greifen und das Geld wegnehmen können — und alles wäre Dmitri Fjodorowitsch zur Last gefallen. Darauf konnte ich immer hoffen.«

»Und, wenn er ihn nun nicht totgeschlagen, sondern nur verprügelt hätte?«

»Dann hätte ich natürlich nicht wagen können, das Geld zu nehmen, und alles wäre vergebens gewesen. Aber ich hatte auch noch darauf spekuliert, daß er ihn bewußtlos schlagen würde; dann hätte ich unterdessen das Geld nehmen und später zu Fjodor Pawlowitsch sagen können, daß Dmitri Fjodorowitsch, nachdem er ihn so geprügelt habe, auch das Geld gestohlen haben müsse.«

»Warte, ich verstehe nicht recht. Also hat doch Dmitri den Mord begangen, und du hast nur das Geld genommen?«

»Nein, er hat den Mord nicht begangen. Nun ja, ich könnte Ihnen auch jetzt noch sagen, daß er der Mörder war, doch ich will Ihnen jetzt nichts vorlügen. Denn wenn Sie auch, wie ich sehe, bisher wirklich nichts verstanden hatten und sich nicht vor mir verstellt haben, um Ihre eindeutige Schuld auf mich abzuwälzen, so sind Sie doch an allem schuld, weil Sie von dem Mord wußten und ihn mir auftrugen, selbst aber wegfuhren, obwohl Sie alles wußten. Darum will ich heute abend Ihnen mitten ins Gesicht beweisen, daß der Hauptmörder hier in jeder Hinsicht einzig und allein Sie sind, ich dagegen nur eine Nebenperson, obwohl ich den Mord begangen habe. Und Sie sind auch im Sinn des Gesetzes der wahre Mörder!«

»Warum, warum bin ich der Mörder? O Gott!« rief Iwan, der sich schließlich nicht mehr beherrschen konnte und vergaß, daß er alles, was ihn betraf, auf das Ende des Gespräches verschoben hatte! »Alles wegen dieses verdammten Tschermaschnja? Sag mal, wozu brauchtest du denn mein Einverständnis in Form meiner Bereitschaft, nach Tschermaschnja zu fahren, falls du das überhaupt als mein Einverständnis aufgefaßt hast? Wie erklärst du das jetzt?«

»Wenn ich Ihrer Zustimmung sicher gewesen wäre, hätte ich gewußt, daß Sie nach Ihrer Rückkehr über diese verlorenen

dreitausend Rubel kein Geschrei erhoben hätten, falls die Obrigkeit auf den Verdacht gekommen wäre, nicht Dmitri Fjodorowitsch — im Gegenteil, Sie hätten mich dann gegen andere verteidigt … Und nach Empfang der Erbschaft konnten Sie mich auch später, Ihr ganzes Leben lang, belohnen. Denn Sie verdankten dann doch die Erbschaft mir; hätte er dagegen Agrafena Alexandrowna geheiratet, wären sie mit langer Nase abgezogen.«

»Ah! Also du wolltest mich später noch erpressen, mein ganzes Leben lang!« rief Iwan zähneknirschend! »Und wenn ich damals nicht weggefahren wäre, sondern eine Anzeige gegen dich eingereicht hätte?«

»Aber was konnten Sie denn in so einer Anzeige angeben? Daß ich Ihnen zugeredet hatte, nach Tschermaschnja zu fahren? Das sind ja Dummheiten! Außerdem wären Sie nach unserem Gespräch entweder weggefahren oder hiergeblieben. Wären Sie hiergeblieben, so wäre eben nichts geschehen; ich hätte dann ohne weiteres gewußt, daß Sie die Sache nicht wünschten, und hätte nichts unternommen. Wenn Sie aber wegfuhren, lag darin für mich Ihre Versicherung, daß Sie gegen mich keine Anzeige erstatten und mir diese dreitausend Rubel verzeihen würden. Und Sie konnten mich auch später nicht verfolgen, weil ich dann alles vor Gericht erzählt hätte, das heißt, nicht daß ich gestohlen und gemordet habe, das hätte ich nicht gesagt sondern daß Sie mich dazu angestiftet hätten, zu stehlen und zu morden, ich aber nicht eingewilligt hätte. Darum brauchte ich damals Ihre Zustimmung, damit Sie mich nicht in die Enge treiben konnten, denn wo hatten Sie einen Beweis? Ich dagegen konnte Sie immer in die Enge treiben, indem ich verriet, wie Sie den Tod Ihres Vaters herbeisehnten. Und ich gebe Ihnen mein Wort: im Publikum hätten es alle geglaubt, und Sie hätten sich Ihr Leben lang schämen müssen.«

»Also sehnte ich ihn herbei?« sagte Iwan wieder zähneknirschend.

»Das taten Sie zweifellos. Und durch Ihre Zustimmung erlaubten Sie mir stillschweigend diese Tat«, erwiderte Smerdjakow, wobei er Iwan fest anblickte. Er war sehr schwach und sprach leise und müde; aber etwas tief in seinem Innern stachelte ihn an; er verfolgte offensichtlich eine bestimmte Absicht. Iwan spürte das.

»Fahre fort!« sagte er, zu ihm! »Erzähle weiter von jener Nacht.«

»Was ist da weiter zu erzählen? Ich lag also da und glaubte zu hören, daß der Herr einen Schrei ausstieß. Grigori Wassiljewitsch war schon vorher aufgestanden und hinausgegangen, und auf einmal brüllte er los, dann war alles still und dunkel. Ich lag da und wartete, das Herz klopfte mir stark, ich konnte es schließlich nicht länger aushalten. Ich stand auf und ging hinaus, und da sah ich, daß links das Fenster zum Garten offenstand; ich ging hin, um zu horchen, und hörte, wie er im Zimmer hin und her ging und stöhnte; also lebte er. ‚Ach was!‘ dachte ich. Ich trat ans Fenster und rief dem Herrn zu: ‚Ich bin es.‘ Er antwortete mir: ‚Er ist dagewesen! Dagewesen und fortgelaufen!‘ Das sollte heißen, Dmitri Fjodorowitsch war dagewesen. ‚Er hat Grigori totgeschlagen!‘ — ‚Wo?‘ flüsterte ich. — ‚Dort in der Ecke‘, antwortete er ebenfalls flüsternd und zeigte mit der Hand hin. ‚Warten Sie!‘ sagte ich. Ich ging suchen und stieß am Zaun auf Grigori Wassiljewitsch; er lag da, ganz von Blut überströmt und ohne Bewußtsein. ‚Also ist es richtig, daß Dmitri Fjodorowitsch dagewesen ist!‘ schoß es mir durch den Kopf, und ich beschloß, alles sofort mit einemmal zu Ende zu bringen, da Grigori Wassiljewitsch, selbst wenn er noch lebte, in seiner Bewußtlosigkeit einstweilen doch nichts sehen würde. Es war nur eine Gefahr dabei, nämlich daß Marfa Ignatjewna plötzlich aufwachen konnte. Ich fühlte das in diesem Augenblick, aber der Eifer hatte mich so gepackt, daß mir der Atem stockte. Ich ging wieder unter das Fenster zum Herrn und sagte: ‚Sie ist hier! Sie ist gekommen! Agrafena Alexandrowna ist gekommen, sie bittet um Einlaß!‘ Er zuckte zusammen wie ein kleines Kind. ‚Wo ist sie, wo?‘ fragte er und stöhnte nur vor Aufregung; er glaubte es noch nicht. ‚Dort steht sie‘, sagte ich. ‚Machen Sie auf!‘ Er schaute mich durchs Fenster an; halb glaubte er mir, und halb nicht, doch er hatte Angst zu öffnen. ‚Nun fürchtet er sich sogar vor mir!‘ dachte ich. Und es ist lächerlich: auf einmal kam mir in den Sinn, das Signal ans Fenster zu klopfen, daß Gruschenka gekommen sei; vor seinen Augen klopfte ich es! Meinen Worten hatte er offenbar nicht geglaubt; als ich jedoch das Signal klopfte, lief er sofort hin, um die Tür zu öffnen. Ich wollte eintreten, aber er stand in der Tür und versperrte mir mit seinem Körper den Weg. ‚Wo ist sie? Wo ist sie?‘ fragte er, wobei er mich zitternd ansah. ‚Na‘, dachte ich, ‚wenn er vor mir solche Angst hat, das ist schlimm!‘ Und da wurden sogar mir die Beine schwach vor Angst, er könnte mich nicht in die Wohnung hineinlassen oder schreien oder Marfa Ignatjewna könnte angelaufen kommen oder es könnte sonst etwas passieren; ich glaube, ich stand damals selber ganz blaß vor ihm. Ich flüsterte ihm zu: ‚Dort ist sie, dort unter dem Fenster! Haben Sie sie denn nicht gesehen?‘ — ‚So führ sie doch her, führ sie doch her!‘ — ‚Sie fürchtet sich‘, sagte ich. ‚Sie hat von dem Schrei einen Schrecken bekommen und sich im Gebüsch versteckt. Gehen Sie in Ihr Zimmer und rufen Sie sie selbst vom Fenster aus!‘ Er trat ans Fenster und stellte das Licht auf das Fensterbrett. ‚Gruschenka‘, rief er. ‚Gruschenka, wo bist du?‘ So rief er; aber sich aus dem Fenster hinausbeugen, das wollte er nicht. Er wollte mich nicht aus den Augen lassen, eben, weil er vor mir so große Angst bekommen hatte; deshalb wagte er nicht, mich aus den Augen zu lassen. ‚Da ist sie ja‘, sagte ich; ich war ans Fenster getreten und beugte mich selber ganz weit hinaus. ‚Da im Gebüsch ist sie und lacht Ihnen zu, sehen Sie nicht?‘ Auf einmal glaubte er mir, begann am ganzen Körper zu zittern, er war ja so verliebt in sie, und beugte sich auch ganz weit aus dem Fenster hinaus. Da nahm ich den eisernen Briefbeschwerer von seinem Tisch, Sie erinnern sich, er mag vielleicht drei Pfund schwer sein, und schlug ihn von hinten mit der Kante genau auf den Scheitel. Er stieß nicht einmal einen Schrei aus, sondern sank nur plötzlich nach unten. Ich schlug ein zweites und ein drittes Mal zu. Beim dritten Mal fühlte ich, daß ich ihm den Schädel eingeschlagen hatte. Er fiel plötzlich lang hin, mit dem Gesicht nach oben, und war ganz von Blut überströmt. Ich besah mich selbst: Kein Blut war an mir, es hatte nicht gespritzt. Ich wischte den Briefbeschwerer ab, legte ihn wieder hin, ging zu den Heiligenbildern und nahm das Geld aus dem Kuvert; das Kuvert warf ich auf den Fußboden und das rosa Bändchen daneben. Dann ging ich in den Garten, ich zitterte am ganzen Körper. Ich ging schnurstracks zu dem Apfelbaum mit der Höhlung im Stamm. Sie kennen diese Höhlung, ich hatte sie mir schon längst ausersehen. In ihr lag bereits ein Lappen und ein Blatt Papier, diese Vorbereitungen hatte ich schon lange getroffen. Ich wickelte die Geldscheine in das Papier und dann in den Lappen und schob das Ganze tief in den Baumstamm. Da hat das Geld über zwei Wochen gelegen, nachdem ich aus dem Krankenhaus entlassen war, habe ich es herausgenommen … Ich kehrte in mein Kämmerchen zurück, legte mich wieder ins Bett und dachte voller Angst: Wenn Grigori Wassiljewitsch ganz tot ist, kann die Sache einen recht üblen Verlauf nehmen; wenn er aber nicht tot ist und wieder zu sich kommt, kann alles gut ablaufen, weil er dann bezeugen wird, daß Dmitri Fjodorowitsch dagewesen ist und somit auch den Mord begangen und das Geld weggenommen hat … Da begann ich in meiner Angst und Ungeduld zu stöhnen, damit Marfa Ignatjewna möglichst schnell aufwachte. Endlich stand sie auf und wollte zu mir herumkommen, doch als sie auf einmal sah, daß Grigori Wassiljewitsch nicht da war, lief sie hinaus, und ich hörte, wie sie im Garten losjammerte. Na, und so nahm denn die Sache ihren Lauf, und ich war inzwischen schon vollkommen beruhigt.«

Smerdjakow verstummte. Iwan hatte ihm die ganze Zeit schweigend zugehört, ohne sich zu rühren und die Augen von ihm abzuwenden. Smerdjakow hatte Iwan beim Erzählen nur ab und zu angesehen, meist jedoch schräg zur Seite geblickt. Als er seinen Bericht beendet hatte, befand er sich offenbar in starker Erregung und atmete schwer. Sein Gesicht war schweißbedeckt, man konnte aber unmöglich erkennen, ob er Reue oder etwas anderes empfand.

»Sag mal«, sagte Iwan nach einigem Nachdenken, »was war mit der Tür? Wenn er sie erst dir geöffnet hat, wie konnte sie dann Grigori schon offen sehen, bevor du kamst? Denn das ist doch wohl der Fall gewesen?« Interessant war, daß Iwan diese Frage ganz friedlich stellte, so daß ein unbefangener Beobachter hätte glauben können, sie säßen da friedlich zusammen und redeten über irgendein gewöhnliches, wenn auch interessantes Thema.

»Was diese Tür anbelangt und Grigoris Aussage, er hätte sie offen gesehen, so ist ihm das nur so vorgekommen«, erwiderte Smerdjakow mit einem schiefen Lächeln! »Der ist ja kein Mensch, sage ich Ihnen, sondern eher ein störrischer Gaul! Er hat es nicht gesehen, aber es ist ihm so vorgekommen — und da läßt er sich nun nicht davon abbringen. Daß er sich das ausgedacht hat, ist Ihnen und mir als besonderer Glückstreffer zugefallen, denn ohne Zweifel wird Dmitri Fjodorowitsch daraufhin schließlich verurteilt!«

»Hör mal!« sagte Iwan Fjodorowitsch, der den Eindruck machte, als ob ihm seine Gedanken wieder durcheinandergerieten und er sich gewaltsam Mühe gäbe, sie zu sammeln! »Hör mal … Ich wollte dich noch vieles fragen, aber ich habe es vergessen … Ich vergesse alles und werde konfus … Ja! Sag mir wenigstens das eine: Warum hast du das Kuvert erbrochen und dort auf dem Fußboden zurückgelassen? Warum hast du das Geld nicht einfach im Kuvert mitgenommen? Als du das erzähltest, schien es mir, als ob du die Sache mit dem Kuvert für notwendig hieltest — doch warum das notwendig gewesen sein soll, kann ich nicht begreifen …«

»Das habe ich aus einem ganz bestimmten Grund gemacht. Denn ein Mensch, der wie ich mit allen Vorgängen im Haus vertraut ist, der dieses Geld vorher gesehen und vielleicht selbst in dieses Kuvert gesteckt und mit eigenen Augen gesehen hat, wie es versiegelt und adressiert wurde — weshalb sollte so einer nach dem Mord das Kuvert erbrechen, noch dazu wenn er in Eile ist, obwohl er doch sowieso weiß, daß das Geld bestimmt drinsteckt? Wäre zum Beispiel jemand von meiner Position der Dieb gewesen, hätte er vielmehr einfach das Kuvert in die Tasche gesteckt, ohne es zu öffnen, und sich damit möglichst schnell davongemacht. Ganz anders lag die Sache bei Dmitri Fjodorowitsch. Er wußte von dem Kuvert nur vom Hörensagen, gesehen hatte er es nicht. Wenn er es also in die Hände bekam, es zum Beispiel unter der Matratze hervorzog, so war natürlich, daß er so schnell wie möglich das Kuvert gleich an Ort und Stelle erbrach, um festzustellen, ob das Geld auch wirklich drin ist. Und daß er das Kuvert dann wegwarf, weil er sich nicht die Zeit nahm, zu überlegen, daß er dadurch ein Indiz gegen sich zurückließ. Er ist eben kein Gewohnheitsdieb und hat vorher noch nie etwas direkt gestohlen, weil er von adliger Herkunft ist. Wenn er sich jetzt zum Stehlen entschloß, so hielt er das eigentlich gar nicht für Diebstahl, sondern glaubte nur, sein Eigentum wieder an sich zu nehmen, weshalb er ja auch die ganze Stadt vorher davon benachrichtigt und sich sogar lauthals gerühmt hatte, daß er hingehen und sich von Fjodor Pawlowitsch sein Eigentum zurückholen werde. Diesen Gedanken habe ich bei meiner Vernehmung dem Staatsanwalt gegenüber nicht gerade deutlich ausgesprochen, sondern nur leise angedeutet, so als ob ich es selber nicht verstünde und er das selber herausgefunden hätte. Dem Herrn Staatsanwalt lief bei diesem meinem Hinweis vor Vergnügen richtig das Wasser im Munde zusammen …«

»Hast du das wirklich alles gleich an Ort und Stelle überlegt, wirklich?« rief Iwan Fjodorowitsch, der vor Erstaunen ganz außer sich war und Smerdjakow wieder entsetzt anstarrte.

»Ich bitte Sie, ist es menschenmöglich, das alles in solcher Eile zu überlegen? Das hatte ich mit alles vorher überlegt.«

»Nun … dann hat dir der Teufel selbst geholfen!« rief Iwan Fjodorowitsch wieder! »Nein, du bist nicht dumm! Du bist viel klüger, als ich dachte …«

Er stand auf, wohl in der Absicht, ein paar Schritte im Zimmer zu tun, denn er war in schrecklicher Erregung. Aber da der Tisch den Weg versperrte und man sich zwischen Tisch und Wand nur eben hindurchdrängen konnte, drehte er sich nur auf dem Fleck um und setzte sich wieder hin. Vielleicht machte ihn dieser Umstand plötzlich so gereizt, daß er wieder mit der früheren Wut losschrie: »Hör zu, du unglücklicher, verächtlicher Mensch! Begreifst du denn wirklich nicht, daß ich dich bis jetzt nur deshalb noch nicht totgeschlagen habe, weil ich dich für die morgige Befragung vor Gericht schone? Gott sieht mein Herz ..,« Iwan hob die Hand! »Vielleicht bin auch ich schuldig gewesen, vielleicht habe auch ich tatsächlich den geheimen Wunsch gehabt, daß mein Vater sterben möchte, aber ich schwöre dir, ich war nicht so schuldig, wie du denkst! Und vielleicht habe ich dich überhaupt nicht zu der Tat angetrieben. Nein, nein, ich habe dich nicht dazu angetrieben! Aber ganz gleich, ich werde gegen mich selber Anzeige erstatten, gleich morgen vor Gericht, dazu bin ich entschlossen! Ich werde alles sagen, alles. Doch ich werde mit dir zusammen erscheinen! Und was du auch vor Gericht gegen mich aussagen magst, ich werde es gelten lassen und dich nicht fürchten! Ich werde alles sogar noch bestätigen! Aber auch du sollst vor Gericht ein Geständnis ablegen! Du mußt es, wir werden zusammen hingehen. So soll es sein!« Iwan sagte das feierlich und energisch, und schon an seinem Blick war zu sehen, daß es ihm Ernst war.

»Sie sind krank, das sehe ich. Krank. Ihre Augen sehen ganz gelb aus«, sagte Smerdjakow ohne jeden Spott, es klang sogar mitleidig.

»Wir werden zusammen hingehen!« wiederholte Iwan! »Wenn du nicht mitkommst — egal, dann werde ich allein alles gestehen.«

Smerdjakow schwieg, als überlegte er.

»Nichts von alledem wird geschehen, und Sie werden auch gar nicht erst hingehen«, sagte er endlich in einem entschiedenen Ton, als sei kein Widerspruch möglich.

»Du verstehst mich nicht!« rief Iwan vorwurfsvoll.

»Sie würden sich viel zu sehr schämen, wenn Sie alles zu Ihren Ungunsten bekennen wollten. Und noch mehr fällt ins Gewicht, daß es nutzlos wäre, völlig nutzlos, denn ich würde geradeheraus erklären, daß ich Ihnen nie etwas Ähnliches gesagt habe, sondern daß Sie entweder krank sind, Sie sehen ja ganz danach aus, oder Ihren Bruder so bemitleiden, daß Sie sich selbst aufopfern und sich diese Anschuldigung gegen mich ausgedacht haben, so wie Sie mich Ihr ganzes Leben lang als eine Mücke angesehen haben und nicht als einen Menschen. Na, und wer würde Ihnen Glauben schenken? Und was haben Sie für Beweise, und wenn es ein einziger wäre?«

»Hör mal, dieses Geld hast du mir jetzt natürlich gezeigt, um mich zu überzeugen.«

Smerdjakow nahm den Isaak Sirin von dem Päckchen herunter und legte ihn beiseite.

»Nehmen Sie dieses Geld an sich! Nehmen Sie es mit!« sagte Smerdjakow mit einem Seufzer.

»Gewiß, ich werde es mitnehmen! Doch warum lieferst du es mir ab, wenn du seinetwegen den Mord begangen hast?« fragte Iwan höchst erstaunt.

»Ich brauche es jetzt nicht mehr«, erwiderte Smerdjakow mit zitternder Stimme und mit einer resignierten Handbewegung! »Ich hatte früher mal so einen Gedanken, daß ich mit einer Summe wie dieser ein neues Leben anfangen könnte, in Moskau oder noch besser im Ausland. Dieser Träumerei überließ ich mich ganz besonders deswegen, weil alles erlaubt ist. Das haben Sie mich gelehrt und mir damals oft auseinandergesetzt: Wenn es keinen ewigen Gott gibt, so gibt es auch keine Tugend, und die ist dann auch gar nicht nötig. Das haben Sie wirklich gesagt. Und das war auch meine Ansicht.«

»Bist du durch deinen eigenen Verstand dahin gelangt?« fragte Iwan mit einem schiefen Lächeln.

»Unter Ihrer Anleitung.«

»Und jetzt hast du also angefangen, an Gott zu glauben, wenn du das Geld zurückgibst?«

»Nein, nicht zu glauben«, flüsterte Smerdjakow.

»Warum gibst du es also zurück?«

»Lassen Sie es gut sein … Es ist egal!« erwiderte Smerdjakow, wieder mit einer müden Handbewegung! »Sie haben doch selber immer gesagt, alles sei erlaubt — warum sind Sie denn jetzt so aufgeregt? Sie wollen sogar hingehen und sich selber denunzieren … Aber nichts dergleichen wird geschehen! Sie werden nicht hingehen und sich nicht denunzieren!« erklärte Smerdjakow wieder im Ton fester Überzeugung.

»Du wirst es sehen!« antwortete Iwan.

»Das ist unmöglich. Sie sind ein sehr kluger Mensch. Sie lieben das Geld, das weiß ich. Sie lieben auch eine angesehene, geachtete Stellung, denn Sie sind stolz. Weibliche Reize lieben Sie maßlos. Und am allermeisten lieben Sie, in ruhigem Behagen zu leben und sich vor niemand zu verbeugen — das am allermeisten. Sie werden sich Ihr Leben doch nicht dadurch für immer ruinieren wollen, daß Sie vor Gericht so eine Schande auf sich nehmen. Sie sind ein Mensch wie Fjodor Pawlowitsch, von allen seinen Kindern sind Sie am meisten nach ihm geartet: Sie haben dieselbe Seele wie er.«

»Du bist nicht dumm«, sagte Iwan, von diesem Urteil offenbar betroffen; das Blut war ihm ins Gesicht gestiegen! »Ich habe dich früher für dumm gehalten. Du bist ein Mensch, den man ernst nehmen muß!« bemerkte er, indem er Smerdjakow gleichsam mit neuen Augen ansah.

»Infolge Ihres Stolzes haben Sie mich für dumm gehalten … Nehmen Sie doch das Geld!«

Iwan nahm alle drei Päckchen und steckte sie in die Tasche, ohne sie irgendwie einzuwickeln.

»Morgen werde ich sie vor Gericht vorzeigen«, sagte er.

»Niemand wird Ihnen glauben. Sie und die Ihrigen haben jetzt eine Menge Geld — man wird meinen, Sie hätten es aus der Schatulle genommen.«

Iwan erhob sich von seinem Platz.

»Ich wiederhole: Wenn ich dich nicht totgeschlagen habe, so einzig und allein deshalb, weil ich dich morgen brauche! Denk daran, vergiß es nicht!«

»Nun gut, schlagen Sie mich tot! Schlagen Sie mich jetzt tot!« sagte Smerdjakow auf einmal mit seltsamer Betonung und seltsamem Blick! »Auch das werden Sie nicht wagen«, fügte er bitter lächelnd hinzu! »Nichts wagen Sie, und dabei waren Sie doch früher ein frischer, kecker Mensch!«

»Bis morgen!« rief Iwan und wollte gehen.

»Warten Sie … Zeigen Sie mir das Geld noch einmal!«

Iwan nahm die Banknoten heraus und zeigte sie ihm. Smerdjakow betrachtete sie etwa zehn Sekunden lang.

»So, nun gehen Sie!« sagte er, wieder mit einer abwinkenden Handbewegung! »Iwan Fjodorowitsch!« rief er ihm dann plötzlich wieder nach.

»Was willst du?« fragte Iwan und drehte sich nochmals um.

»Leben Sie wohl!«

»Bis morgen!« rief Iwan wieder und verließ die Stube und das Haus. Der Schneesturm dauerte immer noch an. Die ersten Schritte ging er energisch und rüstig; dann fing er auf einmal an zu taumeln. ‚Das ist etwas Physisches!‘ dachte er lächelnd. Eine Art Freude überkam jetzt seine Seele. Er fühlte eine grenzenlose Festigkeit in sich: Zu Ende war das Schwanken, das ihn die ganze letzte Zeit so furchtbar gequält hatte! Sein Entschluß war gefaßt — ‚und er wird sich nicht mehr ändern!‘ dachte er beglückt. In diesem Augenblick strauchelte er plötzlich und wäre beinahe hingefallen. Stehenbleibend erkannte er zu seinen Füßen den Bauern, den er vorhin umgestoßen hatte und der immer noch ohne Besinnung regungslos auf demselben Fleck lag. Der Schneesturm hatte ihm schon fast das ganze Gesicht zugeschüttet. Iwan faßte ihn und schleppte ihn ein Ende mit sich. Da er auf der rechten Seite in einem Häuschen Licht sah, ging er hin und klopfte an den Fensterladen; dann bat er den Kleinbürger, dem das Häuschen gehörte, er möchte ihm behilflich sein, den Bauern zur Polizeiwache zu schleppen, wobei er ihm sogleich versprach, ihm dafür drei Rubel zu geben. Der Kleinbürger machte sich fertig und kam heraus. Ich werde nicht eingehend erzählen, wie es Iwan Fjodorowitsch gelang, sein Ziel zu erreichen und den Bauern auf der Polizeiwache unterzubringen, mit der Abmachung, daß er sogleich ärztlich untersucht werden sollte; auch hier spendete er wieder großzügig Geld »für die entstehenden Unkosten«. Ich will nur sagen, daß die Sache beinahe eine ganze Stunde in Anspruch nahm. Doch Iwan Fjodorowitsch war sehr zufrieden. Seine Gedanken waren in Bewegung gekommen und arbeiteten. ‚Wenn mein Entschluß für morgen nicht so fest wäre‘, dachte er plötzlich und hatte ein angenehmes Gefühl dabei, ‚hätte ich nicht eine ganze Stunde darauf verwandt, den Bauern unterzubringen, sondern wäre an ihm vorbeigegangen und hätte mich nicht darum gekümmert, daß er erfror … Oh, ich bin sehr wohl imstande, mich selbst zu beobachten!‘ dachte er in demselben Moment mit noch größerer Freude. ‚Und die glaubten schon, ich verliere den Verstand!‘ Als er an seinem Haus angelangt war, blieb er auf einmal stehen und fragte sich: ‚Muß ich nicht jetzt gleich zum Staatsanwalt gehen und Anzeige erstatten?‘ Er beantwortete die Frage, indem er sich wieder zum Haus umdrehte und vor sich hin flüsterte: »Morgen werde ich alles zusammen erledigen,« Doch seltsam: fast die ganze Freude, die ganze Selbstzufriedenheit waren augenblicklich verschwunden. Als er dann in sein Zimmer trat, berührte plötzlich etwas Eiskaltes sein Herz, als wär's eine Erinnerung — oder besser, eine Mahnung an etwas Qualvolles, Widerwärtiges, das sich jetzt, gleich in diesem Zimmer befinden würde, ja und das auch früher hier war. Er ließ sich müde auf sein Sofa sinken. Die alte Frau brachte ihm den Samowar; er kochte sich Tee, rührte ihn aber nicht an. Die alte Frau schickte er bis morgen weg. Er saß auf dem Sofa und hatte ein Schwindelgefühl im Kopf. Er fühlte sich krank und matt. Er war nahe daran einzuschlafen; aber in seiner Unruhe stand er auf und ging im Zimmer auf und ab, um die Müdigkeit zu verscheuchen. Zeitweilig kam es ihm vor, als phantasiere er im Fieber. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, war nicht seine Krankheit. Nachdem er sich wieder gesetzt hatte, begann er sich von Zeit zu Zeit umzublicken, als hielte er heimlich nach etwas Ausschau. So machte er es mehrere Male. Schließlich konzentrierte sich sein Blick auf einen Punkt. Iwan lächelte, doch Zornesröte überflog sein Gesicht. Er saß lange auf seinem Platz, stützte den Kopf fest in die Hände, schielte aber doch nach dem früheren Punkt, nach dem Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Offensichtlich befand sich dort etwas, was ihn in gereizte Stimmung versetzte: irgendein Gegenstand, der ihn beunruhigte und quälte.