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10. »Das hat er gesagt!«

Als Aljoscha hereingekommen war, teilte er seinem Bruder mit, vor einer guten Stunde sei Marja Kondratjewna zu ihm in die Wohnung gekommen mit der Nachricht, daß Smerdjakow sich das Leben genommen habe! »Ich ging zu ihm hinein, den Samowar holen, da hing er an der Wand an einem Nagel,« Auf Aljoschas Frage, ob sie das schon an der entsprechenden Stelle angezeigt habe, hatte sie geantwortet, sie habe es nicht angezeigt! »Ich bin gleich zu Ihnen gestürzt und den ganzen Weg gerannt!« Aljoscha berichtete, sie sei wie irrsinnig gewesen und habe am ganzen Körper gezittert. Als er mit ihr zusammen zu ihrem Häuschen gelaufen war, hatte er Smerdjakow noch immer hängend gefunden. Auf dem Tisch lag ein Zettel: »Ich vernichte mein Leben nach meinem eigenen Wunsch und Willen, um niemand zu beschuldigen,« Aljoscha hatte den Zettel auf dem Tisch liegengelassen, war direkt zum Bezirkshauptmann gegangen und hatte ihm Anzeige erstattet! »Und von dort bin ich geradewegs zu dir gekommen«, schloß Aljoscha und sah seinen Bruder unverwandt an. Auch die ganze Zeit, während er erzählte, hatte er die Augen nicht von ihm abgewandt, als ob ihm etwas an Iwans Gesicht stark auffiel.

»Bruder«, rief er plötzlich, »du bist sicher sehr krank! Du siehst mich an und scheinst nicht zu verstehen, was ich sage.«

»Das ist gut, daß du gekommen bist«, sagte Iwan gedankenverloren, als hätte er Aljoschas Ausruf gar nicht gehört! »Ich habe es gewußt, daß er sich erhängt hat.«

»Von wem denn?«

»Ich weiß nicht, von wem. Aber ich habe es gewußt. Habe ich es gewußt? Ja, er hat es mir gesagt. Er hat es mir soeben schon gesagt …«

Iwan stand mitten im Zimmer und sprach noch immer genauso in Gedanken versunken, den Blick gesenkt.

»Wer ist das — er?« fragte Aljoscha und schaute sich unwillkürlich um.

»Er hat sich davongemacht.«

Iwan hob den Kopf und lächelte leise.

»Er hat vor dir Angst bekommen, vor dir, du Taube. Du bist ein ‚reiner Cherub‘, Dmitri nennt dich einen Cherub. Die Cherubim … Der donnernde Jubelruf der Seraphim! Was ist das, ein Seraph? Vielleicht ein ganzes Sternbild? Aber vielleicht ist ein ganzes Sternbild nur ein chemisches Molekül … Gibt es ein Sternbild des Löwen und der Sonne, weißt du das nicht?«

»Bruder, setz dich hin!« sagte Aljoscha erschrocken! »Um Gottes willen, setz dich aufs Sofa! Du fieberst, leg dich auf das Kissen, siehst du, so! Willst du ein nasses Handtuch auf den Kopf? Vielleicht wird dir dann besser?«

»Ja, gib mir das Handtuch! Dort auf dem Stuhl, da habe ich es vorhin hingeworfen.«

»Da ist es nicht. Aber beunruhige dich nicht, ich weiß, wo es liegt. Da ist es«, sagte Aljoscha, der in einer anderen Ecke des Zimmers auf Iwans Waschtisch ein noch sauberes, zusammengefaltetes, ungebrauchtes Handtuch gefunden hatte.

Iwan sah das Handtuch sonderbar an. Für einen Augenblick schien ihm die Besinnung zurückzukehren.

»Warte mal …«, sagte er und stand vom Sofa auf! »Ich habe vor einer Stunde dieses Handtuch von derselben Stelle genommen und mit Wasser befeuchtet. Ich legte es mir auf den Kopf und warf es dann hin … Wie kann es denn jetzt trocken sein? Ein anderes ist nicht dagewesen.«

»Du hattest dieses Handtuch auf dem Kopf?« fragte Aljoscha.

»Ja, und ich bin im Zimmer auf und ab gegangen, vor einer Stunde … Wie kommt es, daß die Lichter so weit heruntergebrannt sind? Wie spät ist es?«

»Bald zwölf.«

»Nein, nein, nein!« schrie Iwan plötzlich ..! »Das war kein Traum! Er ist dagewesen, er hat hier gesessen, da, auf dem Sofa. Als du ans Fenster klopftest, hatte ich gerade mit dem Glas nach ihm geworfen … Mit diesem Glas hier … Warte mal, ich habe auch früher geschlafen und geträumt, aber dieser Traum war kein Traum. Es ist auch schon früher vorgekommen. Ich habe jetzt manchmal Träume, Aljoscha … Nein, es sind ja keine Träume, ich bin wach! Ich gehe, rede und gehe … Aber ich schlafe. Er hat hier gesessen, er ist hiergewesen. Da, auf diesem Sofa hat er gesessen … Er ist furchtbar dumm, Aljoscha, furchtbar dumm!« Iwan lachte plötzlich auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

»Wer ist dumm? Von wem sprichst du, Bruder?« fragte Aljoscha wieder besorgt.

»Der Teufel. Er kommt jetzt oft zu mir. Zweimal ist er schon dagewesen, sogar fast dreimal. Er zog mich auf, ich sei verärgert darüber, daß er nur als einfacher Teufel zu mir kommt und nicht als Satan mit versengten Flügeln, unter Donner und Blitz. Aber er ist nicht der Satan, da lügt er. Er maßt sich einen fremden Namen an. Er ist ein einfacher Teufel, ein jämmerlicher, unbedeutender Teufel. Er geht in die Badestube. Wenn man ihn auskleidet, findet man sicherlich einen Schwanz, einen langen, glatten Schwanz wie bei einer dänischen Dogge, eine Elle lang, dunkelbraun … Aljoscha, du bist wohl ganz durchgefroren, du bist im Schneegestöber gewesen, willst du Tee? Was? Er ist kalt? Soll ich den Samowar aufstellen lassen? C'est à ne pas mettre un chien dehors …«

Aljoscha lief schnell zum Waschtisch, befeuchtete ein Handtuch, überredete Iwan, sich wieder hinzusetzen, und legte ihm das feuchte Handtuch auf den Kopf. Er selbst setzte sich neben ihn.

»Was hast du mir vorhin über Lisa gesagt?« begann Iwan wieder; er war sehr redselig geworden! »Lisa gefällt mir. Ich habe über sie etwas Häßliches gesagt. Ich habe gelogen, sie gefällt mir … Ich fürchte morgen für Katja, für sie am allermeisten. Wegen der Zukunft. Sie wird mich morgen fallenlassen und mit Füßen treten. Sie glaubt, ich würde Mitja zugrunderichten, weil ich ihretwegen auf ihn eifersüchtig sei! Ja, das glaubt sie! Aber es ist nicht so! Morgen kommt das Kreuz, aber nicht der Galgen. Nein, ich werde mich nicht erhängen. Weißt du, ich werde niemals fertigbringen, mir das Leben zu nehmen, Aljoscha! Aus Gemeinheit, nicht wahr? Aber ich bin nicht feige. Vielleicht aus Gier zu leben! Woher wußte ich, daß Smerdjakow sich erhängt hat? Ja, er hatte es mir gesagt …«

»Bist du fest davon überzeugt, daß jemand hier gesessen hat?« fragte Aljoscha.

»Dort auf dem Sofa in der Ecke. Du hättest ihn vertrieben, wenn du früher gekommen wärst. Aber du hast ihn auch wirklich vertrieben; als du erschienst, verschwand er. Ich liebe dein Gesicht, Aljoscha. Hast du das gewußt, daß ich dein Gesicht liebe? Er, das bin ich, Aljoscha, ich selbst. Alles, was an mir niedrig, gemein und verächtlich ist! Ja, ich bin ein Romantiker, das hat er heimlich beobachtet … Obwohl es eine Verleumdung ist. Er ist furchtbar dumm, doch dadurch gewinnt er die Oberhand. Er ist schlau, tierisch schlau; er hat gewußt, wodurch er mich in Wut bringen konnte. Er hat mich immer geneckt, als glaubte ich an ihn, und mich dadurch gezwungen, ihn anzuhören. Wie einen kleinen Jungen hat er mich angeführt. Er hat über mich übrigens viel Wahres gesagt. Ich hätte mir das selber nie gesagt. Weißt du, Aljoscha, weißt du …«, fügte Iwan sehr ernst und gewissermaßen vertraulich hinzu! »Ich würde sehr wünschen, daß er wirklich er wäre und nicht ich!«

»Er hat dich gequält!« sagte Aljoscha und blickte seinen Bruder mitleidig an.

»Er hat mich geneckt! Und weißt du, geschickt, sehr geschickt. ‚Das Gewissen! Was ist das Gewissen? Ich mache das Gewissen selbst. Warum quäle ich mich aber? Aus Gewohnheit. Weil sich die gesamte Menschheit seit sieben Jahrtausenden daran gewöhnt hat. Wir wollen es uns also abgewöhnen, und wir werden Götter sein.‘ Das hat er gesagt!«

»Und nicht du, nicht du?« rief Aljoscha zutiefst bewegt und sah den Bruder mit hellen Augen an! »Nun, dann laß ihn, kümmere dich nicht um ihn, vergiß ihn! Soll er alles, was du jetzt verfluchst, mit sich fortnehmen und nie wiederkommen!«

»Ja, aber er ist boshaft. Er hat sich über mich lustig gemacht. Er war dreist, Aljoscha«, sagte Iwan, zitternd ob der erlittenen Kränkung! »Aber er hat mich verleumdet, in vielem hat er mich verleumdet. Er hat mir ins Gesicht Unwahrheiten über mich gesagt. ‚Oh, du wirst hingehen, um eine Heldentat der Tugend zu vollbringen, indem du erklärst, du seist der Mörder deines Vaters und der Diener habe nur auf deine Veranlassung deinen Vater ermordet …‘«

»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, »hör auf! Nicht du hast den Mord begangen. Das ist eine Unwahrheit!«

»Er ist es, der das sagt, er, und er weiß es. ‚Du wirst hingehen, um eine Heldentat der Tugend zu vollbringen, aber du glaubst ja gar nicht an die Tugend — das ist es, was dich ärgert und quält, und das ist auch der Grund, weshalb du so rachsüchtig bist!‘ Das hat er über mich gesagt, und er weiß, was er sagt …«

»Das sagst du, nicht er!« rief Aljoscha traurig! »Und du sagst es, weil du dich in deiner Krankheit, im Fieber, selber quälst!«

»Nein, er weiß, was er sagt. ‚Du wirst aus Stolz hingehen‘, sagt er, ‚wirst dich hinstellen und sagen: Ich bin es, der den Mord begangen hat! Warum windet ihr euch vor Entsetzen? Ihr lügt! Ich verachte eure Meinung, ich verachte euer Entsetzen!‘ Das sagt er von mir, und dann fügt er noch hinzu: ‚Aber weißt du, du möchtest, daß sie dich loben. Er ist ein Verbrecher! sollen sie sagen. Ein Mörder, doch was hat er für hochherzige Gefühle! Er hat seinen Bruder retten wollen und darum seine Tat gestanden!‘ Aber das ist wieder eine Lüge, Aljoscha!« rief Iwan plötzlich mit funkelnden Augen! »Ich will gar nicht, daß mich dieses Gesindel lobt! Das ist eine Lüge von ihm, Aljoscha, eine Lüge, das schwöre ich dir! Ich habe deshalb mit dem Glas nach ihm geworfen, und es ist an seiner Fratze zerbrochen.«

»Bruder, beruhige dich! Hör auf!« bat Aljoscha.

»Nein, er versteht es, einen zu quälen, er ist grausam«, fuhr Iwan fort, ohne auf ihn zu hören! »Ich habe immer geahnt, weshalb er kommt. ‚Wenn es auch der Stolz war‘, sagt er, ‚der dich trieb, so hattest du dabei doch immer die Hoffnung, sie würden Smerdjakow für schuldig erkennen und zur Zwangsarbeit nach Sibirien schicken, würden Mitja freisprechen und dich nur moralisch verurteilen, und die anderen würden dich uneingeschränkt loben. Doch nun ist Smerdjakow tot, hat sich erhängt — na, wer wird dir vor Gericht jetzt Glauben schenken? Aber du wirst ja trotzdem hingehen, du hast beschlossen hinzugeben. Zu welchem Zweck wirst du unter diesen Umständen hingehen?‘ Das ist furchtbar, Aljoscha! Ich kann solche Fragen nicht ertragen. Wer wagt es, mir solche Fragen vorzulegen?«

»Bruder«, unterbrach ihn Aljoscha, der noch immer zu hoffen schien, er könnte Iwan zur Vernunft zurückbringen! »Wie konnte er dir denn vor meinem Kommen von Smerdjakows Tod erzählen, als noch niemand etwas davon wußte und niemand bei der Kürze der Zeit etwas davon hatte erfahren können?«

»Er hat davon gesprochen«, erwiderte Iwan in entschlossenem Ton, als wollte er jeden Zweifel zurückweisen! »Ja, eigentlich hat er nur davon gesprochen. ‚Und wenn du wenigstens noch an die Tugend glaubtest‘, sagt er. ‚Dann könntest du dir sagen: Mögen sie mir auch nicht glauben, ich werde aus Prinzip hingehen! Aber du bist ja genauso ein Ferkel wie Fjodor Pawlowitsch, und was bedeutet dir schon die Tugend? Wozu dorthin laufen, wenn dein Opfer doch nichts nutzt? Nur weil du selbst nicht weißt, wozu du hingehst! Oh, du würdest viel darum geben, wenn du erfahren könntest, wozu du hingehst. Und hast du dich denn wirklich entschlossen? Du hast dich noch nicht entschlossen. Du wirst die ganze Nacht sitzen und überlegen: Soll ich hingehen oder nicht? Aber du wirst trotzdem hingehen, und du weißt, daß du hingehen wirst. Du weißt selbst, daß die Entscheidung nicht mehr von dir abhängt, wofür du dich auch entscheiden magst. Du wirst hingehen, weil du nicht wagst wegzubleiben. Warum du es nicht wagst — das errate selbst! Das ist ein Rätsel, das ich dir aufgebe!‘ Er stand auf und ging. Du kamst, und er ging. Er hat mich einen Feigling genannt, Aljoscha! Le mot de l'énigme ist, daß ich ein Feigling bin … ‚Nicht solchen ist's vergönnt, sich adlergleich ins hohe Reich des Äthers zu erheben!‘, das fügte er noch hinzu! Und Smerdjakow hat dasselbe gesagt. Totschlagen müßte man ihn! Katja verachtet mich, das sehe ich schon seit einem Monat, und auch Lisa beginnt mich zu verachten! ‚Du wirst hingehen, damit sie dich loben!‘ Das ist eine bestialische Lüge! Und auch du verachtest mich, Aljoscha! Jetzt fange ich dich wieder an zu hassen! Auch den Unmenschen hasse ich! Ich will den Unmenschen nicht retten, soll er bei der Zwangsarbeit verfaulen! Eine Hymne hat er angestimmt! Oh, ich werde morgen hingehen! Ich werde vor sie hintreten und ihnen allen ins Gesicht spucken!«

Außer sich sprang er auf, warf das Handtuch von sich und begann erneut im Zimmer auf und ab zu gehen. Aljoscha mußte an die Worte denken, die er kurz vorher gesprochen hatte: »Ich schlafe sozusagen im Wachen. Ich gehe, rede und sehe, aber ich schlafe,« Genau diesen Eindruck machte er jetzt. Aljoscha verließ ihn nicht. Flüchtig ging ihm der Gedanke durch den Kopf, zum Arzt zu laufen und ihn herzuholen, doch er fürchtete sich, den Bruder allein zu lassen; es war niemand da, dem er ihn hätte anvertrauen können. Schließlich verlor Iwan die Besinnung allmählich ganz. Er redete immer noch weiter, ohne Pause, aber schon ganz verworren. Er sprach sogar die Worte mangelhaft aus und begann auf einmal stark zu schwanken. Aljoscha konnte ihn gerade noch rechtzeitig stützen. Iwan ließ sich zu seinem Bett führen; Aljoscha kleidete ihn mit einiger Mühe aus und legte ihn hin. Er selbst saß noch ungefähr zwei Stunden bei ihm. Der Kranke schlief fest, ohne sich zu rühren; er atmete still und gleichmäßig.

Aljoscha nahm ein Kissen und legte sich angekleidet auf ein Sofa. Vor dem Einschlafen betete er für Mitja und Iwan. Iwans Krankheit war ihm nun verständlich geworden: ‚Das sind die Qualen eines stolzen Entschlusses, das ist ein tiefgründiges Gewissen! Gott, an den er nicht geglaubt hatte, und seine Wahrheit hatten dieses Herz überwunden, das sich noch immer nicht hatte ergeben wollen. Ja‘, ging es Aljoscha durch den Kopf, als er schon auf dem Kissen lag, ‚jetzt, da Smerdjakow tot ist, wird Iwans Aussage bei niemand mehr Glauben finden, aber er wird dennoch hingehen und aussagen!‘ Aljoscha lächelte leise: ‚Gott wird siegen!‘ dachte er. Entweder wird er auferstehen im Licht der Wahrheit — oder er wird zugrunde gehen im Haß, indem er sich an sich selbst und an allen dafür rächt, daß er einer Sache gedient hat, an die er selbst nicht glaubt!‘ fügte er in Gedanken mit einem bitteren Gefühl hinzu, und er betete wieder für Iwan.