c. Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten
« Zurück 1 |
2 |
3 |
4 |
5 Weiter »
Wenden wir uns zweitens deshalb jetzt zu der Seite hinüber, welche in der modernen Tragödie von hervorstechenderer Wichtigkeit ist, zu den Charakteren nämlich und deren Kollision, so ist das Nächste, was wir zum Ausgangspunkt nehmen können, kurz resümiert, folgendes:
Die Heroen der alten, klassischen Tragödie finden Umstände vor, unter denen sie, wenn sie sich fest zu dem einen sittlichen Pathos entschließen, das ihrer eigenen für sich fertigen Natur allein entspricht, notwendig in Konflikt mit der gleichberechtigten, gegenüberstehenden sittlichen Macht geraten müssen. Die romantischen Charaktere hingegen stehen von Anfang an mitten in einer Breite zufälligerer Verhältnisse und Bedingungen, innerhalb welcher sich so und anders handeln ließe, so daß der Konflikt, zu welchem die äußeren Voraussetzungen allerdings den Anlaß darbieten, wesentlich in dem Charakter liegt, dem die Individuen in ihrer Leidenschaft nicht um der substantiellen Berechtigung willen, sondern weil sie einmal das sind, was sie sind, Folge leisten. Auch die griechischen Helden handeln zwar nach ihrer Individualität, aber diese Individualität ist, wie gesagt, auf der Höhe der alten Tragödie notwendig selbst ein in sich sittliches Pathos, während in der modernen der eigentümliche Charakter als solcher, bei welchem es zufällig bleibt, ob er das in sich selbst Berechtigte ergreift oder in Unrecht und Verbrechen geführt wird, sich nach subjektiven Wünschen und Bedürfnissen, äußeren Einflüssen usf. entscheidet. Hier kann deshalb wohl die Sittlichkeit des Zwecks und der Charakter zusammenfallen, diese Kongruenz aber macht der Partikularisation der Zwecke, Leidenschaften und subjektiven Innerlichkeit wegen nicht die wesentliche Grundlage und objektive Bedingung der tragischen Tiefe und Schönheit aus.
Was nun die weiteren Unterschiede der Charaktere selber anbetrifft, so läßt sich hierüber bei der bunten Mannigfaltigkeit, der in diesem Gebiete Tür und Tor eröffnet ist, wenig Allgemeines sagen. Ich will deshalb nur die nachstehenden Hauptseiten berühren. - Ein nächster Gegensatz, der bald genug ins Auge springt, ist der einer abstrakten und dadurch formellen Charakteristik Individuen gegenüber, die uns als konkrete Menschen lebendig entgegentreten. Von der ersten Art lassen sich als Beispiel besonders die tragischen Figuren der Franzosen und Italiener zitieren, die, aus der Nachbildung der Alten entsprungen, mehr oder weniger nur als bloße Personifikationen bestimmter Leidenschaften - der Liebe, Ehre, des Ruhms, der Herrschsucht, Tyrannei usf. - gelten können und die Motive ihrer Handlungen sowie den Grad und die Art ihrer Empfindungen zwar mit einem großen deklamatorischen Aufwand und vieler Kunst der Rhetorik zum besten geben, doch in dieser Weise der Explikation mehr an die Fehlgriffe des Seneca als an die dramatischen Meisterwerke der Griechen erinnern. Auch die spanische Tragödie streift an diese abstrakte Charakterschilderung an. Hier aber ist das Pathos der Liebe im Konflikt mit der Ehre, Freundschaft, königlichen Autorität usf. selbst so abstrakt-subjektiver Art und in Rechten und Pflichten von so scharfer Ausprägung, daß es, wenn es in dieser gleichsam subjektiven Substantialität als das eigentliche Interesse hervorstechen soll, eine vollere Partikularisation der Charaktere kaum zuläßt. Dennoch haben die spanischen Figuren oft eine wenn auch wenig ausgefüllte Geschlossenheit und sozusagen spröde Persönlichkeit, welche den französischen abgeht, während die Spanier zugleich, der kahlen Einfachheit im Verlaufe französischer Tragödien gegenüber, auch im Trauerspiel den Mangel an innerer Mannigfaltigkeit durch die scharfsichtig erfundene Fülle interessanter Situationen und Verwicklungen zu ersetzen verstehen. - Als Meister dagegen in Darstellung menschlich voller Individuen und Charaktere zeichnen sich besonders die Engländer aus, und unter ihnen wieder steht vor allen anderen Shakespeare fast unerreichbar da. Denn selbst wenn irgendeine bloß formelle Leidenschaft, wie z. B. im Macbeth die Herrschsucht, im Othello die Eifersucht, das ganze Pathos seiner tragischen Helden in Anspruch nimmt, verzehrt dennoch solch eine Abstraktion nicht etwa die weiterreichende Individualität, sondern in dieser Bestimmtheit bleiben die Individuen immer noch ganze Menschen. Ja, je mehr Shakespeare in der unendlichen Breite seiner Weltbühne auch zu den Extremen des Bösen und der Albernheit fortgeht, um so mehr gerade, wie ich schon früher bemerkte, versenkt er selbst auf diesen äußersten Grenzen seine Figuren nicht etwa ohne den Reichtum poetischer Ausstattung in ihre Beschränktheit, sondern er gibt ihnen Geist und Phantasie; er macht sie durch das Bild, in welchem sie sich in theoretischer Anschauung objektiv wie ein Kunstwerk betrachten, selber zu freien Künstlern ihrer selbst und weiß uns dadurch, bei der vollen Markigkeit und Treue seiner Charakteristik, für Verbrecher ganz ebenso wie für die gemeinsten, plattesten Rüpel und Narren zu interessieren. Von ähnlicher Art ist auch die Äußerungsweise seiner tragischen Charaktere: individuell, real, unmittelbar lebendig, höchst mannigfaltig und doch, wo es nötig erscheint, von einer Erhabenheit und schlagenden Gewalt des Ausdrucks, von einer Innigkeit und Erfindungsgabe in augenblicklich sich erzeugenden Bildern und Gleichnissen, von einer Rhetorik - nicht der Schule, sondern der wirklichen Empfindung und Durchgängigkeit des Charakters, daß ihm in Rücksicht auf diesen Verein unmittelbarer Lebendigkeit und innerer Seelengröße nicht leicht ein anderer dramatischer Dichter unter den Neueren kann zur Seite gestellt werden. Denn Goethe hat zwar in seiner Jugend einer ähnlichen Naturtreue und Partikularität, doch ohne die innere Gewalt und Höhe der Leidenschaft nachgestrebt, und Schiller wieder ist in eine Gewaltsamkeit verfallen, für deren hinausstürmende Expansion es an dem eigentlichen Kern fehlt.
Ein zweiter Unterschied in den modernen Charakteren besteht in ihrer Festigkeit oder ihrem inneren Schwanken und Zerwürfnis. Die Schwäche der Unentschiedenheit, das Herüber und Hinüber der Reflexion, das Überlegen der Gründe, nach welchen der Entschluß sich richten soll, tritt zwar auch bei den Alten schon hin und wieder in den Tragödien des Euripides hervor; doch Euripides verläßt auch bereits die ausgerundete Plastik der Charaktere und Handlung und geht zum subjektiv Rührenden über. Im modernen Trauerspiel nun kommen dergleichen schwankende Gestalten häufiger besonders in der Weise vor, daß sie in sich selber einer gedoppelten Leidenschaft angehören, welche sie von dem einen Entschluß, der einen Tat zur anderen herüberschickt. Ich habe von diesem Schwanken bereits an einer anderen Stelle gesprochen (Bd. l, S. 312-316) und will hier nur noch hinzufügen, daß, wenn auch die tragische Handlung auf der Kollision beruhen muß, dennoch das Hineinlegen des Zwiespalts in ein und dasselbe Individuum immer viel Mißliches mit sich führt. Denn die Zerrissenheit in entgegengesetzte Interessen hat zum Teil in einer Unklarheit und Dumpfheit des Geistes ihren Grund, zum Teil in Schwäche und Unreifheit. Von dieser Art finden sich noch in Goethes Jugendprodukten einige Figuren: Weisungen z. B., Fernando in Stella, vor allem aber Clavigo. Es sind gedoppelte Menschen, die nicht zu fertiger und dadurch fester Individualität gelangen können. Anders schon ist es, wenn einem für sich selbst sicheren Charakter zwei entgegengesetzte Lebenssphären, Pflichten usf. gleich heilig erscheinen und er sich dennoch mit Ausschluß der anderen auf die eine Seite zu stellen genötigt sieht. Dann nämlich ist das Schwanken nur ein Übergang und macht nicht den Nerv des Charakters selbst aus. Wieder von anderer Art ist der tragische Fall, daß ein Gemüt gegen sein besseres Wollen zu entgegengesetzten Zwecken der Leidenschaft abirrt, wie z. B. Schillers Jungfrau, und sich nun aus diesem inneren Zwiespalt in sich selbst und nach außen herstellen oder daran untergehen muß. Doch hat diese subjektive Tragik innerer Zwiespältigkeit, wenn sie zum tragischen Hebel gemacht wird, überhaupt teils etwas bloß Trauriges und Peinliches, teils etwas Ärgerliches, und der Dichter tut besser, sie zu vermeiden, als sie aufzusuchen und vorzugsweise auszubilden. Am schlimmsten aber ist es, wenn solch ein Schwanken und Umschlagen des Charakters und ganzen Menschen gleichsam als eine schiefe Kunstdialektik zum Prinzipe der ganzen Darstellung gemacht wird und die Wahrheit gerade darin bestehen soll, zu zeigen: kein Charakter sei in sich fest und seiner selbst sicher. Die einseitigen Zwecke besonderer Leidenschaften und Charaktere dürfen es zwar zu keiner unangefochtenen Realisierung bringen, und auch in der gewöhnlichen Wirklichkeit wird ihnen durch die reagierende Gewalt der Verhältnisse und entgegenstehenden Individuen die Erfahrung ihrer Endlichkeit und Unhaltbarkeit nicht erspart; dieser Ausgang aber, welcher erst den sachgemäßen Schluß bildet, muß nicht als ein dialektisches Räderwerk gleichsam mitten in das Individuum selbst hineingesetzt werden, sonst ist das Subjekt als diese Subjektivität eine nur leere, unbestimmte Form, die mit keiner Bestimmtheit der Zwecke wie des Charakters lebendig zusammenwächst. Ebenso ist es noch etwas anderes, wenn der Wechsel im inneren Zustande des ganzen Menschen eine konsequente Folge gerade dieser eigenen Besonderheit selber erscheint, so daß sich dann nur entwickelt und herauskommt, was an und für sich von Hause aus in dem Charakter gelegen hatte. So steigert sich z. B. in Shakespeares Lear die ursprüngliche Torheit des alten Mannes zur Verrücktheit in der ähnlichen Weise, als Glosters geistige Blindheit zur wirklichen leiblichen Blindheit umgewandelt wird, in welcher ihm dann erst die Augen über den wahren Unterschied in der Liebe seiner Söhne aufgehen. - Gerade Shakespeare gibt uns, jener Darstellung schwankender und in sich zwiespältiger Charaktere gegenüber, die schönsten Beispiele von in sich festen und konsequenten Gestalten, die sich eben durch dieses entschiedene Festhalten an sich selbst und ihren Zwecken ins Verderben bringen. Nicht sittlich berechtigt, sondern nur von der formellen Notwendigkeit ihrer Individualität getragen, lassen sie sich zu ihrer Tat durch die äußeren Umstände locken oder stürzen sich blind hinein und halten in der Stärke ihres Willens darin aus, selbst wenn sie jetzt nun auch, was sie tun, nur aus Not vollführen, um sich gegen andere zu behaupten, oder weil sie nun einmal dahin gekommen, wohin sie gekommen sind. Das Entstehen der Leidenschaft, die, an sich dem Charakter gemäß, bisher nur noch nicht hervorgebrochen ist, jetzt aber zur Entfaltung gelangt, dieser Fortgang und Verlauf einer großen Seele, ihre innere Entwicklung, das Gemälde ihres sich selbst zerstörenden Kampfes mit den Umständen, Verhältnissen und Folgen ist der Hauptinhalt in vielen von Shakespeares interessantesten Tragödien.
Der letzte wichtige Punkt, über den wir jetzt noch zu sprechen haben, betrifft den tragischen Ausgang, dem sich die modernen Charaktere entgegentreiben, sowie die Art der tragischen Versöhnung, zu welcher es diesem Standpunkte zufolge kommen kann. In der antiken Tragödie ist es die ewige Gerechtigkeit, welche als absolute Macht des Schicksals den Einklang der sittlichen Substanz gegen die sich verselbständigenden und dadurch kollidierenden besonderen Mächte rettet und aufrechterhält und bei der inneren Vernünftigkeit ihres Waltens uns durch den Anblick der untergehenden Individuen selber befriedigt. Tritt nun in der modernen Tragödie eine ähnliche Gerechtigkeit auf, so ist sie bei der Partikularität der Zwecke und Charaktere teils abstrakter, teils bei dem vertiefteren Unrecht und den Verbrechen, zu denen sich die Individuen, wollen sie sich durchsetzen, genötigt sehen, von kälterer, kriminalistischer Natur. Macbeth z. B., die älteren Töchter und Tochtermänner Lears, der Präsident in Kabale und Liebe, Richard III. usf. verdienen durch ihre Greuel nichts Besseres, als ihnen geschieht. Diese Art des Ausgangs stellt sich gewöhnlich so dar, daß die Individuen an einer vorhandenen Macht, der zum Trotz sie ihren besonderen Zweck ausführen wollen, zerschellen. So geht z. B. Wallenstein an der Festigkeit der kaiserlichen Gewalt zugrunde; doch auch der alte Piccolomini, der bei der Behauptung der gesetzlichen Ordnung Verrat am Freunde begangen und die Form der Freundschaft mißbraucht hat, wird durch den Tod seines hingeopferten Sohnes bestraft. Auch Götz von Berlichin-gen greift einen politisch bestehenden und sich fester gründenden Zustand an und geht daran zugrunde, wie Weisungen und Adelheid, welche zwar auf der Seite dieser ordnungsmäßigen Gewalt stehen, doch durch Unrecht und Treubruch sich selbst ein unglückliches Ende bereiten. Bei der Subjektivität der Charaktere tritt nun hierbei sogleich die Forderung ein, daß sich auch die Individuen in sich selbst mit ihrem individuellen Schicksal versöhnt zeigen müßten. Diese Befriedigung nun kann teils religiös sein, indem das Gemüt gegen den Untergang seiner weltlichen Individualität sich eine höhere unzerstörbare Seligkeit gesichert weiß, teils formellerer, aber weltlicher Art, insofern die Stärke und Gleichheit des Charakters, ohne zu brechen, bis zum Untergange aushält und so seine subjektive Freiheit allen Verhältnissen und Unglücksfällen gegenüber in ungefährdeter Energie bewahrt; teils endlich inhaltsreicher durch die Anerkennung, daß es nur ein seiner Handlung gemäßes, wenn auch bitteres Los dahinnehme.
Auf der anderen Seite aber stellt sich der tragische Ausgang auch nur als Wirkung unglücklicher Umstände und äußerer Zufälligkeiten dar, die sich ebenso hätten anders drehen und ein glückliches Ende zur Folge haben können. In diesem Falle bleibt uns nur der Anblick, daß sich die moderne Individualität bei der Besonderheit des Charakters, der Umstände und Verwicklungen an und für sich der Hinfälligkeit des Irdischen überhaupt überantwortet und das Schicksal der Endlichkeit tragen muß. Diese bloße Trauer ist jedoch leer und wird besonders dann eine nur schreckliche, äußerliche Notwendigkeit, wenn wir in sich selbst edle, schöne Gemüter in solchem Kampfe an dem Unglück bloß äußerer Zufälle untergehen sehen. Ein solcher Fortgang kann uns hart angreifen, doch erscheint er nur als gräßlich, und es drängt sich unmittelbar die Forderung auf, daß die äußeren Zufälle mit dem übereinstimmen müssen, was die eigentliche innere Natur jener schönen Charaktere ausmacht. Nur in dieser Rücksicht können wir uns z. B. in dem Untergange Hamlets und Julias versöhnt fühlen. Äußerlich genommen, erscheint der Tod Hamlets zufällig durch den Kampf mit Laertes und die Verwechslung der Degen herbeigeleitet. Doch im Hintergrunde von Hamlets Gemüt liegt von Anfang an der Tod. Die Sandbank der Endlichkeit genügt ihm nicht; bei solcher Trauer und Weichheit, bei diesem Gram, diesem Ekel an allen Zuständen des Lebens fühlen wir von Hause aus, er sei in dieser greuelhaften Umgebung ein verlorener Mann, den der innere Überdruß fast schon verzehrt hat, ehe noch der Tod von außen an ihn herantritt. Dasselbe ist in Romeo und Julia der Fall. Dieser zarten Blüte sagt der Boden nicht zu, auf den sie gepflanzt ward, und es bleibt uns nichts übrig, als die traurige Flüchtigkeit so schöner Liebe zu beklagen, die wie eine weiche Rose im Tal dieser zufälligen Welt von den rauhen Stürmen und Gewittern und den gebrechlichen Berechnungen edler, wohlwollender Klugheit gebrochen wird. Dies Weh aber, das uns befällt, ist eine nur schmerzliche Versöhnung, eine unglückselige Seligkeit im Unglück.
« Zurück 1 |
2 |
3 |
4 |
5 Weiter »