c. Die Arten der eigentlichen Lyrik

 

Was nun endlich einzelne Arten betrifft, die sich hierher zählen lassen, so will ich nur folgende erwähnen.

Erstlich Volkslieder, welche ihrer Unmittelbarkeit wegen hauptsächlich auf dem Standpunkte des Liedes stehenbleiben und meist sangbar sind, ja des begleitenden Gesanges bedürfen. Sie erhalten teils die nationalen Taten und Begebnisse, in welchen das Volk sein eigenstes Leben empfindet, in der Erinnerung wach, teils sprechen sie die Empfindungen und Situationen der verschiedenen Stände, das Mitleben mit der Natur und den nächsten menschlichen Verhältnissen unmittelbar aus und stimmen die verschiedenartigsten Töne der Lustigkeit oder Trauer und Wehmut an. - Ihnen gegenüber zweitens stehen die Lieder einer schon in sich vielfach bereicherten Bildung, welche sich zu geselliger Erheiterung an den mannigfaltigsten Scherzen, anmutigen Wendungen, kleinen Vorfällen und sonstigen galanten Einkleidungen ergötzt oder empfindsamer sich an die Natur und an Situationen des engeren menschlichen Lebens wendet und diese Gegenstände sowie die Gefühle dabei und darüber beschreibt, indem der Dichter in sich zurückgeht und sich an seiner eigenen Subjektivität und deren Herzensregungen weidet. Bleiben dergleichen Lieder bei der bloßen Beschreibung, besonders von Naturgegenständen, stehen, so werden sie leicht trivial und zeugen von keiner schöpferischen Phantasie. Auch mit dem Beschreiben der Empfindungen über etwas geht es häufig nicht besser. Vor allem muß der Dichter bei solcher Schilderung der Gegenstände und Empfindungen nicht mehr in der Befangenheit der unmittelbaren Wünsche und Begierden stehen, sondern in theoretischer Freiheit sich schon ebensosehr darüber erhoben haben, so daß es ihm nur auf die Befriedigung ankommt, welche die Phantasie als solche gibt. Diese unbekümmerte Freiheit, diese Ausweitung des Herzens und Befriedigung im Elemente der Vorstellung gibt z. B. vielen der Anakreontischen Lieder sowie den Gedichten des Hafis und dem Goetheschen West-östlichen Divan den schönsten Reiz geistiger Freiheit und Poesie. - Drittens nun aber ist auch auf dieser Stufe ein höherer allgemeiner Inhalt nicht etwa ausgeschlossen. Die meisten protestantischen Gesänge für kirchliche Erbauung z. B. gehören zur Klasse der Lieder. Sie drücken die Sehnsucht nach Gott, die Bitte um seine Gnade, die Reue, Hoffnung, Zuversicht, den Zweifel, Glauben usf. des protestantischen Herzens zwar als Angelegenheit und Situation des einzelnen Gemüts aus, aber auf allgemeine Weise, in welcher diese Empfindungen und Zustände zugleich mehr oder weniger Angelegenheit eines jeden sein können oder sollen.

 ββ) Zu einer zweiten Gruppe dieser umfassenden Stufe lassen sich die Sonette, Sestinen, Elegien, Episteln usf. rechnen. Diese Arten treten aus dem bisher betrachteten Kreise des Liedes schon heraus. Die Unmittelbarkeit des Empfindens und ÄuBerns nämlich hebt sich hier zur Vermittlung der Reflexion und vielseitig umherblickenden, das Einzelne der Anschauung und Herzenserfahrung unter allgemeinere Gesichtspunkte zusammenfassenden Betrachtung auf; Kenntnis, Gelehrsamkeit, Bildung überhaupt darf sich geltend machen, und wenn auch in allen diesen Beziehungen die Subjektivität, welche das Besondere und Allgemeine in sich verknüpft und vermittelt, das Herrschende und Hervorstechende bleibt, so ist doch der Standpunkt, auf den sie sich stellt, allgemeiner und erweiterter als im eigentlichen Liede. Besonders die Italiener z. B. haben in ihren Sonetten und Sestinen ein glänzendes Beispiel einer feinsinnig reflektierenden Empfindung gegeben, die in einer Situation nicht bloß die Stimmungen der Sehnsucht, des Schmerzes, Verlangens usf. oder die Anschauungen von äußeren Gegenständen mit inniger Konzentration unmittelbar ausdrückt, sondern sich vielfach herumwindet, mit Besonnenheit weit in Mythologie, Geschichte, Vergangenheit und Gegenwart umherblickt und doch immer in sich wiederkehrt und sich beschränkt und zusammenhält. Dieser Art der Bildung ist weder die Einfachheit des Liedes vergönnt noch die Erhebung der Ode gestattet, wodurch denn einerseits die Sangbarkeit fortfällt, andererseits aber als Gegenteil des begleitenden Singens die Sprache selbst in ihrem Klingen und künstlichen Reimen zu einer tönenden Melodie des Wortes wird. Die Elegie dagegen kann in Silbenmaß, Reflexionen, Aussprüchen und beschreibender Darstellung der Empfindungen epischer gehalten sein.

γγ) Die dritte Stufe in dieser Sphäre wird durch eine Behandlungsweise ausgefüllt, deren Charakter neuerdings unter uns Deutschen am schärfsten in Schiller hervorgetreten ist. Die meisten seiner lyrischen Gedichte, wie die »Resignation«, »Die Ideale«, »Das Reich der Schatten«, »Die Künstler«, »Das Ideal und das Leben«, sind ebensowenig eigentliche Lieder als Oden oder Hymnen, Episteln, Sonette oder Elegien im antiken Sinne; sie nehmen  im Gegenteil einen von allen diesen Arten verschiedenen Standpunkt ein. Was sie auszeichnet, ist besonders der großartige Grundgedanke ihres Inhalts, von welchem der Dichter jedoch weder dithyrambisch fortgerissen erscheint noch im Drange der Begeisterung mit der Größe seines Gegenstandes kämpft, sondern desselben vollkommen Meister bleibt und ihn mit eigener poetischer Reflexion, in ebenso schwungreicher Empfindung als umfassender Weite der Betrachtung mit hinreißender Gewalt in den prächtigsten, volltönendsten Worten und Bildern, doch meist ganz einfachen, aber schlagenden Rhythmen und Reimen nach allen Seiten hin vollständig expliziert. Diese großen Gedanken und gründlichen Interessen, denen sein ganzes Leben geweiht war, erscheinen deshalb als das innerste Eigentum seines Geistes; aber er singt nicht still in sich oder in geselligem Kreise wie Goethes liederreicher Mund, sondern wie ein Sänger, der einen für sich selbst würdigen Gehalt einer Versammlung der Hervorragendsten und Besten vorträgt. So tönen seine Lieder, wie er selbst von seiner Glocke sagt:

 

Hoch überm niedern Erdenleben

Soll sie in blauem Himmelszelt,

Die Nachbarin des Donners, schweben

Und grenzen an die Sternenwelt,

Soll eine Stimme sein von oben

Wie der Gestirne helle Schar,

Die ihren Schöpfer wandelnd loben

Und führen das bekränzte Jahr.

Nur ewigen und ernsten Dingen

Sei ihr metallner Mund geweiht,

Und stündlich mit den schnellen

Schwingen Berühr im Fluge sie die Zeit.

 

 

 

 


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