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Urteilskraft

Urteilskraft. Ein Mittelglied zwischen Verstand und Vernunft ist die „Urteilskraft“. Sie ist das Vermögen, das Besondere unter das Allgemeine (eine Regel, ein Gesetz) zu subsumieren. Ist das Allgemeine durch den Verstand schon gegeben, so ist die Urteilskraft „bestimmend“, muß es erst gefunden werden, so ist sie „reflektierend“. Die reflektierende Urteilskraft hat ein eigenes, (aber nur subjektiv-regulatives) apriorisches Prinzip, das der Zweckmäßigkeit (s. d.). Sie ist „ästhetische“ oder aber „teleologische“ Urteilskraft. Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft dient zur „Beurteilung“ von Erfahrungen in einer eigenen Hinsicht, zur Verständlichmachung des Zusammenhanges der besonderen Erfahrungen und Gesetze untereinander und als Regel der Forschung nach solchen Gesetzen. Durch das der Urteilskraft eigene Prinzip der Zweckmäßigkeit führt sie das Besondere, Mannigfaltige der Natur auf eine Einheit zurück, aus der sie es sich verständlich macht.

Die Urteilskraft ist „das Vermögen, unter Regeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe oder nicht“. Die Urteilskraft ist ein besonderes Talent, welches nicht belehrt, sondern geübt sein will. Die allgemeine Logik kann daher der Urteilskraft keine Vorschriften geben. Hingegen hat die transzendentale Logik die Aufgabe, „die Urteilskraft im Gebrauch des reinen Verstandes durch bestimmte Regeln zu berichtigen und zu sichern“. Die Transzendental-Philosophie hat hierbei das Eigentümliche, „daß sie außer der Regel (oder vielmehr der allgemeinen Bedingung zu Regeln), die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden sollen“. Denn sie hat es mit apriorischen Begriffen (Kategorien) zu tun, KrV tr. Anal. 2. B. Einl. (I 179 ff.—Rc 233 ff.).

Die Urteilskraft ist ein Mittelglied zwischen dem Verstande und der Vernunft, also ein „besonderes Erkenntnisvermögen“. Als solches muß sie ein ihr eigentümliches Prinzip a priori in sich enthalten, KU Vorr. (II 2 f.). Zwischen Erkenntnis- und Begehrungsvermögen ist das Gefühl der Lust und Unlust. Es ist also zu vermuten, „daß die Urteilskraft ebensowohl für sich ein Prinzip a priori enthalten, und da mit dem Begehrungsvermögen notwendig Lust oder Unlust verbunden ist ..., ebensowohl einen Übergang vom reinen Erkenntnisvermögen, d. i. vom Gebiete der Naturbegriffe zum Gebiete des Freiheitsbegriffes bewirken werde, als sie im logischen Gebrauche den Übergang vom Verstande zur Vernunft möglich macht“, KU Einl. III (II 14 f.). „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert ..., bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend.“ „Die bestimmende Urteilskraft unter allgemeinen transzendentalen Gesetzen, die der Verstand gibt, ist nur subsumierend; das Gesetz ist ihr a priori vorgezeichnet, und sie hat also nicht nötig, für sich selbst auf ein Gesetz zu denken, um das Besondere in der Natur dem Allgemeinen unterordnen zu können.“ Aber es gibt so „mannigfaltige Formen der Natur“, die durch jene Gesetze des Verstandes — die nur auf die „Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt“ gehen — unbestimmt gelassen werden. Für sie müssen doch auch Gesetze sein, die als empirische „nach unserer Verstandeseinsicht“ zufällig sein mögen, aber doch als Gesetze aus einem uns unbekannten „Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen“ als notwendig angesehen werden müssen. Die reflektierende Urteilskraft bedarf also eines Prinzips, welches die „Einheit aller empirischen Prinzipien unter gleichfalls empirischen, aber höheren Prinzipien und also die Möglichkeit der systematischen Unterordnung derselben untereinander“ begründen soll. Ein solches transzendentales Prinzip kann die Urteilskraft sich nur selbst (a priori) als Gesetz geben, ibid. IV (II 15 f.). „Nun kann dieses Prinzip kein anderes sein als daß, da allgemeine Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstande haben, der sie der Natur ... vorschreibt, die besonderen empirischen Gesetze in Ansehung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist, nach einer solchen Einheit betrachtet werden müssen, als ob gleichfalls ein Verstand (wenngleich nicht der unsrige) sie zum Behuf unserer Erkenntnisvermögen, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen, gegeben hätte. Nicht, als wenn auf diese Art wirklich ein solcher Verstand angenommen werden müßte (denn es ist nur die reflektierende Urteilskraft, der diese Idee zum Prinzip dient, zum Reflektieren, nicht zum Bestimmen); sondern dieses Vermögen gibt sich dadurch nur selbst und nicht der Natur ein Gesetz“. „Weil nun der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den Grund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck, und die Übereinstimmung eines Dinges im derjenigen Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist, die Zweckmäßigkeit der Form derselben heißt: so ist das Prinzip der Urteilskraft, in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen überhaupt, die Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit. D. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte.“ „Die Zweckmäßigkeit der Natur ist also ein besonderer Begriff a priori, der lediglich in der reflektierenden Urteilskraft seinen Ursprung hat. Denn den Naturprodukten kann man so etwas, als Beziehung der Natur an ihnen auf Zwecke, nicht beilegen, sondern diesen Begriff nur brauchen, um über sie in Ansehung der Verknüpfung der Erscheinungen in ihr, die nach empirischen Gesetzen gegeben ist, zu reflektieren. Auch ist dieser Begriff von der praktischen Zweckmäßigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten) ganz unterschieden, ob er zwar nach einer Analogie mit derselben gedacht wird“, ibid. (II 16 f.). Das Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur ist ein „transzendentales Prinzip“ der Urteilskraft, d. h. ein solches, „durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können“. Sie bedarf daher einer „transzendentalen Deduktion, vermittelst deren der Grund, so zu urteilen, in den Erkenntnisquellen a priori aufgesucht werden muß“, ibid. Einl. V (II 17 ff.); vgl. Zweck. Die Urteilskraft hat ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, „aber nur in subjektiver Rücksicht“, in sich., „wodurch sie nicht der Natur (als Autonomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Reflexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man das Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Gesetze nennen könnte, das sie a priori an ihr nicht erkennt, sondern zum Behuf einer für unseren Verstand erkennbaren Ordnung derselben in der Einteilung, die sie von ihren allgemeinen Gesetzen macht, annimmt, wenn sie diesen eine Mannigfaltigkeit der besonderen unterordnen will“, ibid. (II 22 f.); vgl. Zweck, Zweckmäßigkeit, Teleologie.

Die „ästhetische“ Urteilskraft ist das Vermögen, die „formale“ (subjektive) Zweckmäßigkeit (s. d.) durch das Gefühl der Lust oder Unlust zu beurteilen (vgl. Ästhetisch). Die „teleologische“ Urteilskraft ist das Vermögen, die „reale“ (objektive) Zweckmäßigkeit der Natur durch Verstand und Vernunft zu beurteilen. Erstere ist ein besonderes Vermögen, „Dinge nach einer Regel, aber nicht nach Begriffen zu beurteilen“, letztere ist „kein besonderes Vermögen, sondern nur die reflektierende Urteilskraft überhaupt“, sofern sie nach Begriffen, „aber in Ansehung gewisser Gegenstände der Natur nach besonderen Prinzipien, nämlich einer bloß reflektierenden, nicht Objekte bestimmenden Urteilskraft“ verfährt, KU Einl VIII (II 31 f.). „Der Verstand gibt, durch die Möglichkeit seiner Gesetze a priori für die Natur, einen Beweis davon, daß diese von uns nur als Erscheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein übersinnliches Substrat derselben; aber läßt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip a priori der Beurteilung der Natur, nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als außer uns) Bestimmbarkeit durch das intellektuelle Vermögen. Die Vernunft aber gibt ebendemselben durch ihr praktisches Gesetz a priori die Bestimmung; und so macht die Urteilskraft den Übergang vom Gebiete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich“, ibid. IX (II 34). Die Urteilskraft enthält die konstitutiven Prinzipien a priori für das Gefühl (s. d.) der Lust und Unlust. „Der Begriff der Urteilskraft von einer Zweckmäßigkeit der Natur ist noch zu den Naturbegriffen gehörig, aber nur als regulatives Prinzip des Erkenntnisvermögens; obzwar das ästhetische Urteil über gewisse Gegenstände (der Natur oder der Kunst), welches ihn veranlaßt, in Ansehung des Gefühls der Lust oder Unlust ein konstitutives Prinzip ist.“ „Die Spontaneität im Spiele der Erkenntnisvermögen, deren Zusammenstimmung den Grund dieser Lust enthält, macht den gedachten Begriff zur Vermittlung der Verknüpfung der Gebiete des Naturbegriffs mit dem Freiheitsbegriffe in ihren Folgen tauglich, indem diese zugleich die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl befördert“, ibid. (II 35).

Urteilskraft ist „ein so besonderes, gar nicht selbständiges Erkenntnisvermögen, daß es weder, wie der Verstand, Begriffe, noch, wie die Vernunft, Ideen von irgendeinem Gegenstand gibt, weil es ein Vermögen ist, bloß unter anderweitig gegebene Begriffe zu subsummieren. Sollte also ein Begriff oder Regel, die ursprünglich aus der Urteilskraft entsprungen, stattfinden, so müßte es ein Begriff von Dingen der Natur sein, sofern diese sich nach unserer Urteilskraft richtet und also von einer solchen Beschaffenheit der Natur, von welcher man sich sonst gar keinen Begriff machen kann, als nur daß sich ihre Einrichtung nach unserem Vermögen richte, die besonderen gegebenen Gesetze unter allgemeinere, die doch nicht gegeben sind, zu subsummieren; mit anderen Worten, es müßte der Begriff von einer Zweckmäßigkeit der Natur zum Behuf unseres Vermögens sein, sie zu erkennen, sofern dazu erfordert wird, daß wir das Besondere als unter dem Allgemeinen enthalten beschreiben und es unter den Begriff einer Natur subsummieren können“, Erste Einl. in die KU, II, WW ed. Cassirer-Buek (V 186). „Das eigentümliche Prinzip der Urteilskraft ist also: die Natur spezifiziert ihre allgemeinen Gesetze zu empirischen, gemäß der Form eines logischen Systems zum Behuf der Urteilskraft“, ibid. V (V 196).

Die Urteilskraft (iudicium) ist das intellektuelle Vermögen der „Unterscheidung, ob etwas ein Fall der Regel sei oder nicht“. Sie geht auf das, „was tunlich ist, was sich schickt und was sich geziemt (für technische, ästhetische und praktische Urteilskraft)“, Anthr. 1. T. § 42 (IV 110). Die Urteilskraft ist „das Vermögen, zum Allgemeinen (der Regel) das Besondere auszufinden“, ibid. § 44 (IV 113). Vgl. Witz. „Die Urteilskraft ist zwiefach: die bestimmende oder die reflektierende Urteilskraft. Die erstere geht vom Allgemeinen zum Besonderen; die zweite vom Besonderen zum Allgemeinen. — Die letztere hat nur subjektive Gültigkeit; — denn das Allgemeine, zu welchem sie vom Besonderen fortschreitet, ist nur empirische Allgemeinheit, — ein bloßes Analogon der logischen“, Log. § 81 (IV 145 f.). „Die Schlüsse der Urteilskraft sind gewisse Schlußarten, aus besonderen Begriffen zu allgemeinen zu kommen. — Es sind also nicht Funktionen der bestimmenden, sondern der reflektierenden Urteilskraft; mithin bestimmen sie auch nicht das Objekt, sondern nur die Art der Reflexion über dasselbe, um zu seiner Kenntnis zu gelangen“, ibid. § 82 (IV 146). „Das Prinzip, welches den Schlüssen der Urteilskraft zugrunde liegt, ist dieses: daß vieles nicht ohne einen gemeinschaftlichen Grund in einem zusammenstimmen, sondern daß das, was vielem auf diese Art zukommt, aus einem gemeinschaftlichen Grunde notwendig sein werde“, ibid. § 83 (IV 146). Schlüsse der Urteilskraft sind der Induktions- und der Analogieschluß (s. Analogie).

Die Urteilskraft ist nichts weiter als „das Vermögen, seinen Verstand in concreto zu beweisen“. Sie schafft nicht neue Erkenntnisse, sondern unterscheidet nur, wie die vorhandenen anzuwenden sind. „Man könnte sagen, durch Verstand sind wir imstande, zu erlernen (d. i. Regeln zu fassen), durch Urteilskraft, vom Erlernten Gebrauch zu machen (Regeln in concreto anzuwenden), durch Vernunft, zu erfinden, Prinzipien für mannigfaltige Regeln auszudenken“, An Fürst von Beloselsky, Sommer 1792. Vgl. N 403, 2409. Vgl. Urteilskraft (Kritik der), Ästhetik, Schönheit, Geschmacksurteil, Kunst, Zweck, Zweckmäßigkeit, Gesetz, Spiel, Spezifikation, Technik (der Natur).