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Rudolf Virchow

So steht es um die ethnographische Sprachwissenschaft: die Linguistik begleitet die Menschheit kleine viertausend Jahre zurück und wünscht ganz naiv, dicht vor dieser historischen Zeit ein Urvolk, eine Ursprache zu entdecken. So läuft wohl ein Junge eine halbe Stunde weit, die blauen Berge zu erreichen, die er gesehen hat; so hofft er, wenn er nur tapfer läuft, das goldene Schüsselehen unter dem Regenbogen zu finden. Und die Anthropologie wieder verkürzt die Zeiträume, weil sie gar zu gern von ihren Eiszeiten, von ihren Höhlenmenschen und selbst von den näher wohnenden Pfahlbauern herabgelangen möchte zu den historischen Zeiten der benannten Völker und der bezifferten Ereignisse. Dass die Brücke zwischen beiden Disziplinen nicht zu schlagen ist, das wird die Sprachwissenschaft so bald nicht lernen wollen. Die Ethnographie in ihrem skeptischsten Vertreter beginnt jedoch, sich dieser Erkenntnis nicht mehr zu verschließen.

Ich meine Rudolf Virchow, der von seinen Arbeiten auf dem Gebiete der pathologischen Anatomie gern zu den einzelnen Disziplinen der Anthropologie hinüberflüchtete und das nicht geringe Verdienst besaß, in mehr als einem Falle schon dem Taumel der Halbgebildeten seine autoritäre Skepsis entgegengesetzt zu haben. Es mag ihm schwer geworden sein, auch in seinen liebgewordenen ethnographischen Forschungen mit den Jahren immer skeptischer zu werden. Zuletzt erklärte er, dass er die Rassen gar nicht mehr als einen klaren naturwissenschaftlichen Begriff anzuerkennen vermöchte. Aber schon vor dreißig Jahren hatte er in einem Vortrage über die Urbevölkerung Europas fast widerwillig ein "ignoramus" ausgesprochen.

Er ist freilich, wie jeder Gelehrte unserer neualexandrinischen Zeit der Arbeitsteilung, geneigt, die Ergebnisse der ihm unbekannten Disziplinen auf Treu und Glauben hinzunehmen; er mißtraut der Sprachwissenschaft darum nur dort, wo die Sprachwissenschaft selbst Fehlerquellen ihrer Methode entdeckt hat. Innerhalb der Anthropologie entdeckt er die Fehlerquellen selbst. So spricht er seinen linguistischen Kollegen ganz zuversichtlich die Hypothese nach, dass die eigentlichen Kulturstämme eingewandert seien und dass die Einwanderung von Osten her erfolgt sei. Er folgert aus hauptsächlich sprachwissenschaftlichen Schlüssen, dass Europa vor der Einwanderung der Arier überall (insbesondere in Spanien und dann im Nordosten) von einer turanischen Rasse bewohnt gewesen sei, dort von den Iberern, hier von den Finnen, dass die Turanier wahrscheinlich (?) aus Asien stammen. Aber damit ist ihm denn doch die Frage nach der Urbevölkerung nicht entschieden. Virchows unzählige Schädelmessungen, durch welche er in Berlin fast ebenso populär geworden ist wie durch seine politischen Reden, haben ihn schließlich zu einem sehr wichtigen negativen Ergebnisse geführt. Er sah schließlich ein, dass diese Schädelmessungen nichts über die Urzeit aussagen können. Die vorhistorischen Schädel Skandinaviens sagen nichts aus über die Verwandtschaft mit den Finnen. Und gar die ältesten Schädel der belgischen und französischen Höhlenmenschen sind so ausgesprochene Langschädel, dass Virchow, wenn er durch die Sprachwissenschaft nicht das Gegenteil wüßte (?), zu der Ansicht bekehrt worden wäre, die Höhlenbewohner der Urzeit seien langschädelige Arier gewesen. Und welche Hoffnungen hatte die Anthropologie auf die berühmte Einteilung in Langschädel und Kurzschädel gesetzt!

So wurde Virchow durch seine anthropologischen Forschungen dazu geführt, dass er die Körperbeschaffenheit der jetzigen Europäer historisch zu erklären ablehnte. So lag es z. B. mit der Farbe der Haare und der Augen. Angenommen aber nicht zugegeben, dass die Arier blond und blauäugig waren, so konnten die brünetten Europäer ebenso gut von einer Veränderung in der Konstitution der arischen Einwanderer herkommen wie von einer Urbevölkerung, wie auch von beiden. Dazu kam nun gar noch die von Oskar Heer gefundene Tatsache, dass die in den schweizerischen Pfahlbauten entdeckten pflanzlichen Überreste sehr stark mit afrikanischen Kulturpflanzen übereinstimmten, dass man also an eine afrikanische Urbevölkerung Südeuropas denken konnte. Dazu kam, dass Virchow selbst die alten Vorstellungen von einer rein europäischen Steinzeit aufgeben mußte. Wollte man also das Urteil über die Urbevölkerung Europas nicht den Linguisten überlassen, gegen die Virchow denn doch auf der Hut zu sein scheint, wollte man die alte Fabel von dem kurzschädeligen und darum geistig zurückgebliebenen Urmenschen nicht gegen seine bessere Überzeugung aufrecht erhalten, so kam man — das heißt eben Rudolf Virchow — zum Eingeständnis vollständiger Unkenntnis über die vorhistorische Zeit. Ausdrücklich sagt Virchow in seiner vorsichtig tastenden Weise, dass schon die Annahme von Höhlenmenschen auch nur um das neunte oder zehnte Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung für die Phantasie einen so großen Spielraum ergebe, "dass wir auch einen mehrmaligen Wechsel der europäischen Urbevölkerung ohne Schwierigkeit zulassen können".