Zum Hauptinhalt springen

Die Urheimat der Arier

Die Bedeutung der Fremdsilben ist von der Sprachwissenschaft nicht vorurteilslos untersucht worden, und die Schwierigkeit, Fremdwörter zu bestimmen, ist noch nicht resigniert genug in der Ethnographie beachtet. Aber die Unzuverlässigkeit der Stammbäume hat doch schon vor einem Menschenalter dazu geführt, dass die Legende von der asiatischen Urheimat der sogenannten Arier von einzelnen Forschern bezweifelt oder aufgegeben wurde. Wie von England zuerst der Gedanke ausging, das Sanskrit sei die Mutter unserer Kultursprachen, so wurde auch in England zuerst der Zweifel an dieser Genealogie ausgesprochen. Latham versetzte die Urheimat nach Europa, nach Südrußland. Seinem Zweifel wenigstens schlössen sich Whitney und Benfey an. Seitdem ist ein lebhafter Wettkampf eröffnet, die Urheimat des angeblichen Urvolkes irgendwohin zu verlegen, wo der Forscher suggestiv durch die Wichtigkeit hingeführt wurde, die er der Geschichte eines einzelnen Volkes beilegte. So verteidigte Benfey die Annahme einer europäischen Urheimat damit, dass das Urvolk noch keine gemeinsame Bezeichnung für den Löwpn besessen habe, der doch in Asien zu Hause ist; "Löwe" gilt für ein semitisches Fremdwort. Dagegen wurde wieder vor etwa zwanzig Jahren "Löwe" für indogermanisch erklärt, weil die Laute ein gelbes oder graues Tier bedeuten. Es machte dem Entdecker dieser Etymologie nichts, gelb und grau für undifferenziert zu halten. Viktor Hehn wieder, der ganz treffend über die Aufstellung besonderer, genau lokalisierter Urheimaten spottet, bleibt der asiatischen Herkunft treu und stützt sich vornehmlich auf seine Geschichte des Wortes Salz. Friedrich Müller ist für Europa, setzt aber doch eine Zickzackwanderung voraus, wie denn die Vorstellung einer Wanderung trotz der neuen Ansichten von Johannes Schmidt immer wieder die Darstellungen beeinflußt.

Dann suchte man der Frage mit physiologischen Phantastereien näher zu kommen. Theodor Pösche behauptete (1878), die Urheimat der Indogermanen in den Rokitnosümpfen am Dnjepr gefunden zu haben, weil dort — der Albinismus zu Hause sei. Trotzdem man sich nun über dieses "weichselzöpfige Kakerlakengeschlecht" weidlich lustig machte, blieb seitdem namentlich bei den Anthropologen, die nicht allein von der Sprachwissenschaft herkamen, die Annahme einer europäischen Urheimat für die blonde Rasse bestehen. Und es will scheinen, als ob heutzutage die Bezeichnung "blonde Rasse" frühere Bezeichnungen (Arier, Indogermanen usw,) ablösen wollte, als ob die Periode ihrem Ende nahe wäre, wo man von der Sprachwissenschaft wichtige Aufschlüsse über die Vorgeschichte der Völker erwartete. Wir leben in einer Übergangszeit, deren Konfusion sich am deutlichsten in viel gelesenen Büchern ausspricht, weil ihre Verfasser das ganze Material elegant zusammenfassen wollten. Carus Sterne (Dr. Ernst Krause) versetzt die Urheimat seiner arischen Stämme nach "Tuisko-Land", wofür sich die Skandinavier bedanken mögen; man weiß nicht, ob man seine Darlegung mehr dilettantisch oder mehr poetisch nennen soll. Er stützt sich zumeist auf Sagenforschungen und unterscheidet da seinerseits wieder nirgends schärfer zwischen Sagenverwandtschaft und Sagenentlehnung, zwischen eigenen Sagen und Fremdsagen. Rudolph v. Ihering wieder in seinem überaus geistreichen und anregenden nachgelassenen Roman "Vorgeschichte der Indoeuropäer" erkennt mit verblüffender Sicherheit die semitischen Einflüsse auf Sprache, Kultur und Recht, lehrt aber deshalb um so bestimmter die Einwanderung aus einer asiatischen Heimat. Seine Behauptungen verdienen kaum, Hypothesen genannt zu werden; es sind Einfälle eines geistsprühenden Mannes, der die Kulturgeschichte der Welt auch in der Urzeit von dem Boden der römischen Rechtsgeschichte aus betrachtet. Der berühmte Lehrer der römischen Rechtsgeschichte scheint vorauszusetzen, dass die Erde auch in den sogenannten Urzeiten nur von Wucherern und Juristen bewohnt gewesen sei.