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Abstammung und Sprache

Die Sachlage ist also die — und darauf wollte ich hinauskommen —, dass die Sprachwissenschaft aus gewissen Ähnlichkeiten einzelner Menschensprachen auf eine leibliche Verwandtschaft solcher ähnlich sprechender Völker zurückschließen will — dass also die Sprachwissenschaft Geschichte lehren will, dass wir dagegen deutlich sehen, wie die Sprachwissenschaft erst auf historischem Boden möglich ist, wie die historisch beglaubigte leibliche Verwandtschaft die Entstehung der Sprachen erst aufklärt. In Wahrheit aber, was wissen wir darüber, wer auch nur vor viertausend Jahren, also in der Gegenwart im Vergleich zur Geschichte der Erde, an den Ufern des Rheins und der Donau gehaust hat? Was wissen wir davon, ob die heutigen Deutschen von jenen Leuten leiblich abstammen? Was wissen wir von der Sprache, die in diesen Gegenden vor viertausend Jahren gesprochen wurde? Und um noch näher an die Gegenwart heranzurücken, so nahe, dass eine Kette von vierzig Menschen von Geschlecht zu Geschlecht genügen würde, um uns mit jener Zeit zu verständigen: was wissen wir von den Sprachmischungen aus den Tagen der legendenreichen Völkerwanderung? Was ist die berühmte Völkerwanderung überhaupt mehr als ein Wort der Verlegenheit, ein Eingeständnis des Nichtwissens?

Es geht so mit manchen betriebsamen historischen Disziplinen. Eine Zeitlang ist die aufgedeckte Silberader reich genug, um den Abbau zu lohnen; jeder verständige Arbeiter findet Schätze. So ging es den Indoeuropäern nach dem Bekanntwerden des Sanskrit. Nachher aber wird die Ader dünner, und dünner, und schließlich lohnt das Ergebnis nicht mehr die Arbeit. Der Betrieb würde eingestellt werden, wenn nicht das eine Mal der Staat törichterweise die Fabrik unterstützte, das andere Mal Größenwahn oder Aberglaube die Hoffnung aufrecht erhielten, auf dem alten, toten Arbeitsfelde immer wieder neue Schätze zu finden.

Seitdem die Sprachwissenschaft über die indoeuropäischen Sprachen hinaus auf die wilden Sprachen ausgedehnt worden ist, taucht hier und da schon der Gedanke auf, dass Erscheinungen, die früher allein durch Verwandtschaft erklärt wurden, auch auf Sprachmischung beruhen können. Auf den Inseln zwischen Australien und Asien leben Negervölker, deren Sprachen mit denen der braunen Polynesier nahe verwandt sein sollen; man behauptet, dass diese Stämme ethnographisch mit den Australnegern zusammenhängen, linguistisch mit den malayisch-polynesischen Sprachen. Die Ähnlichkeit soll so groß sein, dass sie durch Entlehnung allein nicht zu erklären wäre. Worauf beruht nun diese merkwürdige Ähnlichkeit? Auf Sprachmischung oder auf Verwandtschaft? Leibliche Verwandtschaft der Völker scheint ausgeschlossen zu sein, man nähme denn eine unnachweisbare Bastardierung an. Der nächstliegende Gedanke ist, an eine Sprachmischung zu denken, die durch Handel oder Krieg, Kultur oder Eroberung hervorgerufen wurde. Jede Hypothese über den wirklich historischen Vorgang ist phantastisch, aber kaum viel phantastischer als die von unseren Gelehrten feierlich vorgetragenen Hypothesen über die urgermanische Sprache und über das Verhältnis der germanisch redenden Völker zu den indisch redenden.  

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