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Bedeutungswandel

Ich kann unmöglich hoffen, mit meiner rücksichtslosen Skepsis Eindruck auf die Fachleute der Sprachwissenschaft zu machen, wenn ich sehe, wie selbst die höflichen und rücksichtsvollen Zweifel Bréals leichter Hand beiseite geschoben worden sind. Und doch will es mir scheinen, dass schon seine Kritik der indoeuropäischen Ursprache zu einer richtigeren Bewertung der sogenannten Lautgesetze hätte führen müssen. Sein Hinweis auf die Phantasterei in den etymologischen Versuchen, die über das Sanskrit hinaus zu den indoeuropäischen Wurzeln geführt haben, hätte in dem Streite darüber aufklärend wirken können, ob die Lautgesetze unbedingt gültig seien oder nicht. Wir haben gesehen, dass die ideale Forderung nach ihrer unbedingten Gültigkeit nur ein logisches Spiel mit Worten ist. Es sind nämlich die Lautgesetze eben keine wirklichen Gesetze, wenn man sich auf sie nicht wie auf andere Naturgesetze verlassen kann. Man muß sie als unbedingt gültig definieren, will man sie als Teile einer Wissenschaft anerkennen. Da aber die Erfahrung dieser unbedingten Gültigkeit widerspricht, so bleibt nichts anderes übrig als schließlich immer kleinere und kleinere Gruppen und zuletzt alle einzelnen Fälle Gesetze zu nennen. Die behauptete Gesetzlichkeit der Sprachgeschichte würde für uns erst dann einen größeren Wert haben, wenn der Bedeutungswandel gesetzlich zu ordnen wäre. Dessen Gesetzlichkeit steht aber doch noch tiefer als die des Lautwandels, wenn ich hier von dem vorhistorischen, von dem weiteren Lautwandel absehe. Bei dem historischen Lautwandel mag die Gesetzlosigkeit durch individuelle Einflüsse hervorgerufen sein; es mag in der physiologischen Herstellung der Sprachlaute wirklich die Tendenz (eine immer wieder gestörte Tendenz) zur Gesetzlichkeit vorliegen. Wollte man nun — wogegen ich nichts einzuwenden habe — auch die Grundlage des Bedeutungswandels, die Gedankenassoziation, einen physiologischen Vorgang nennen, so ist doch das Werkzeug dieses Wandels um so viel komplizierter als das verhältnismäßig grobe Sprachwerkzeug, dass natürlich selbst die Tendenz zur Regelmäßigkeit kaum zu beobachten sein dürfte. Es wäre vermessen, wenn die Fachleute den Lautwandel so betrachteten, als ob sich seine Gesetze a priori hätten erkennen lassen, als ob es möglich wäre, den künftigen Lautwandel aus der Gegenwart vorauszusagen; immerhin läßt sich so etwas in der Phantasie ausdenken, immerhin ließe sich a priori z. B. ein Schema für die Abschwächung, das heißt für die bequemere Aussprache der Konsonanten aufstellen. Beim Bedeutungswandel ist eine solche Gesetzmäßigkeit nicht einmal denkbar, weil wir nicht ausdenken können, was dem so unbekannten Werkzeug Gehirn bequem ist und was nicht. Man vergegenwärtige sich den Weg des Bedeutungswandels an einem den Fachleuten wohlbekannten Beispiele (I, S. 296). Es gibt da etwas wie Wurzeln, welche die Bedeutung "scheinen, glänzen" besitzen, und es läßt sich der Weg von dieser Bedeutung in verschiedene Eichtungen verfolgen. Der erste Weg führt über glänzen, leuchten, brennen, stechen, verwunden bis zur Verursachung von moralischen Leiden; ein anderer Weg führt über brennen, Hitze empfinden, austrocknen zur Empfindung des Durstes; ein dritter Weg führt über brennen oder leuchten, beleuchten, sehen, wahrnehmen zum geistigen Erkennen. Ich möchte wohl den Wetterpropheten kennen lernen, der einen solchen Bedeutungswandel in Gesetze bringen könnte.