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Moderne Etymologie

Unsere heutige Etymologie schenkt uns eine ganze Menge ernsthafter Ergebnisse; wer aber glauben könnte, dass wir uns mit ihrer Hilfe dem Ursprung der Sprache nähern können, der ist nicht klüger als die Griechen und die Bibeletymologen. Neben die Leistungen der griechischen Sprachphilosophen gehalten ist z. B. Kluges etymologisches Lexikon der deutschen Sprache oder auch Körtings lateinisch-romanisches Wörterbuch ein Wunderwerk an Wissen und Fleiß. Das Gehirn eines Aristoteles würde ein solches Buch nicht fassen können, auch wenn es alle deutschen Mundarten, Mittelhochdeutsch, Althochdeutsch, Gotisch und Sanskrit dazu vorher aufgenommen hätte. Was aber ist für die ernsthafte Aufgabe aller Sprachwissenschaft die Leistung eines solchen Wunderwerks? Es wird die deutsche Sprache geschichtlich um etwa 500 Jahre zurückverfolgt, es werden sehr viele Worte um ganze tausend Jahre sogar zurückbeobachtet; häufig wird die Verwandtschaft mit anderen germanischen Sprachen glaubhaft nachgewiesen; nicht selten auch die "Verwandtschaft" mit der lateinischen oder mit der griechischen Sprache. Und ab und zu gelingt es auch, die Lautverwandtschaft mit dem Sanskrit überzeugend zu belegen. Das Interesse an solchen kleinen Nachweisungen ist allgemein und man kann dümmere Interessen haben. Das Aufsuchen der Ähnlichkeiten ist für die Spezialforscher eines der geistreichsten Spiele, die je erfunden worden sind. Und wer, ohne sich an der Forschung zu beteiligen, diese Disziplin wenigstens versteht, sieht dem geistreichen Spiele sicherlich mit vielem Vergnügen zu. Ja es kann ihm, wenn er Sinn dafür hat, dabei zumute werden wie dem junkerlichen Erben hoher Ahnen, der in der Waffensammlung seines Hauses von einem kundigen Begleiter umhergeführt wird und erfährt: diese Steinaxt wurde in einem Graben gefunden, zehn Schritte vom Burgtor, mit dieser Armbrust ging dein Ahnherr vor zwanzig Generationen auf die Jagd, mit dieser Hakenbüchse wurde dein Wall vor zehn Generationen verteidigt, und dieses Feuersteingewehr trugen noch die Leute, die dein Großvater in den Freiheitskriegen kommandierte. So ist Etymologie eine ganz aristokratische Disziplin. Wer nicht weiß, wer oder was sein Urgroßvater gewesen ist, erblickt plötzlich in der Sprache einen Ahnensaal, dessen Bilder doppelt so weit zurückgehen, als die der stolzesten Geschlechter Europas. Die Etymologie gewährt also ohne Frage ein großes Vergnügen. Was aber trägt die Etymologie zur Welterkenntnis bei oder auch nur bescheident-lich zur Erkenntnis vom Wesen der Sprache? Was lehrt sie über den Ursprung der menschlichen Sprache? Was lehrt sie auch nur über den Ursprung einer Einzelsprache?