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An die Lehrer der Selbstlosigkeit

21.

An die Lehrer der Selbstlosigkeit. — Man nennt die Tugenden eines Menschen gut, nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen: — man ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig „selbstlos“, sehr wenig „unegoistisch“ gewesen! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass die Tugenden (wie Fleiß, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens schädlich sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend!) — so bist du ihr Opfer! Aber der Nachbar lobt eben deshalb deine Tugend! Man lobt den Fleißigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleiße schädigt; man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich „zu Schanden gearbeitet hat“, weil man urteilt: „Für das ganze Große der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten Einzelnen nur ein kleines Opfer! Schlimm, dass das Opfer Not tut! Viel schlimmer freilich, wenn der Einzelne anders denken und seine Erhaltung und Entwickelung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste der Gesellschaft!“ Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner selber willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses Werkzeug — ein sogenannter „braver Mensch“ — durch diesen Tod der Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten hätte, — ja man gesteht sich wohl einen Vorteil davon zu, schlägt aber jenen anderen Vorteil, dass ein Opfer gebracht und die Gesinnung des Opfertiers sich wieder einmal augenscheinlich bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesamt-Vorteil des Individuums sich nicht in Schranken halten lässt, kurz: die Unvernunft in der Tugend, vermöge deren das Einzelwesen sich zur Funktion des Ganzen umwandeln lässt. Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas Privat-Schädlichem, — das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. — Freilich: zur Erziehung und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vorteil als verschwistert erscheinen lassen, — und es gibt in der Tat eine solche Geschwisterschaft! Der blindwütende Fleiß zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der Weg zu Reichtum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die Langeweile und die Leidenschaften: aber man verschweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so: sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vorteilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, wider seinen letzten Vorteil, aber „zum allgemeinen Besten“ in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, dass der blindwütende Fleiß zwar Reichtümer und Ehre schafft, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuss an Reichtum und Ehren geben könnte, ebenso, dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste aller Zeitalter — unser Zeitalter — weiß aus seinem vielen Fleiße und Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiß: es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben! — Nun, wir werden unsere „Enkel“ haben!) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachteil im Sinne des höchsten privaten Zieles, — wahrscheinlich irgend eine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang: man erwäge der Reihe nach von diesem Gesichtspunkte aus die Tugend des Gehorsams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften — also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf seine Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, — dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen! Der „Nächste“ lobt die Selbstlosigkeit, weil er durch sie Vorteile hat! Dächte der Nächste selber „selbstlos“, so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu seinen Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er dieselbe nicht gut nennte! — Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht: die Motive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem Prinzipe! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sie aus ihrem Kriterium des Moralischen! Der Satz, „du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen“ dürfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen dekretiert werden, welches damit selber seinem Vorteil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus um des Nutzens willen anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz „du sollst den Vorteil auch auf Unkosten alles Anderen suchen“ zur Anwendung gebracht, also in Einem Athem ein „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ gepredigt!