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Zerstörung des Gedächtnisses

Die allmähliche Zerstörung des Gedächtnisses in allen Formen des sprachlich erkennbaren Wahnsinns ist für uns besonders lehrreich, wo sie vom Sprachgedächtnis zuerst die konkretesten und zuletzt die abstraktesten Worte angreift, Wie beim Erdbeben stürzen massive Mauern früher ein als Holzwände. Sehr merkwürdig ist es, daß nach neueren Beobachtungen wie nach den ältesten Erfahrungen auch der allgemeine Gedächtnisschwund zuerst das Bekannteste und zuletzt das Unbekannteste zerstört. Das kranke Gehirn wie das greisenhafte vergißt zuerst die Wahrnehmungen des letzten Tages; und selbst eine sonst starke Gedächtnisschwäche kann noch die Erinnerung an die Kindheit zurückbehalten. Nach dem Gedächtnis für Begriffe erst verschwindet (Ribot S. 75) das Gedächtnis für Affekte. Und von dem Nerven- und Muskelgedächtnis, das menschliche Handlungen vollziehen hilft, gilt wieder der Satz, daß die sogenannten Gewohnheiten, also die Tätigkeiten des automatischen Gedächtnisses, am längsten dauern.

Auch Blödsinnige können noch stricken, Karten spielen, Predigten aufsagen. Es ist also dieselbe Erscheinung wie im besonderen Falle des Sprachgedächtnisses. Was schwer ist, was Hemmungen zu überwinden hat, was also den schmerzlichen Zustand des Bewußtseins erzeugt, das wird zuerst abgestreift. Nacheinander verlieren sich die bequemen Gedächtnisse, die erworbenen Instinkte, die mechanischen Gewohnheiten. Die ganz vegetativen Gedächtnisse, die der Verdauung und der Atmung bleiben dem Menschen treu, wie die aaslüsterne Krähe dem sterbenden Wanderer treu blieb, das Atmungsgedächtnis bis zum letzten Atemzuge, was ein schöner Fall von Tautologie ist. Stundenlang, tagelang nach dem sogenannten Tode arbeiten noch die feinsten Organe des Magens und die Flimmerzellen des Atemwegepithels weiter, nach dem Tode des Herrn, wie ein Subalterner um sein bißchen Fraß und Luft nach dein Tode des Vorgesetzten weiter arbeitet. Und nicht unerwähnt darf bleiben, daß unter den Dingen, für welche Idioten am häufigsten ein Gedächtnis besitzen (Ribot S. 84), besonders Zahlen, Daten, Eigennamen, überhaupt die Worte beobachtet worden sind. Idioten können also niemals Forscher, wohl aber Gelehrte werden. Ein Idiot erinnerte sich des Tages jeder Beerdigung, die in seinem Kirchspiel seit 35 Jahren stattgefunden hatte. Das war ein gelehrter Fachmann.

Die gelehrten Fachleute des Gedächtnisses zerbrechen sich ihr Gedächtnis darüber, wie der Kranke, der die Sprache verloren hat, noch denken könne. Wir fragen natürlich zuerst, ob er noch denken könne. Und die beobachteten Tatsachen widersprechen durchaus nicht unserer Überzeugung, daß er ohne Sprache nicht denken könne. In Fällen, wo in der Aphasie z. B. anstatt Schere "womit geschnitten wird", anstatt Fenster "was durchsichtig" gesagt wird, ist Sprache eben noch vorhanden. Mit solchen Umschreibungen denken wir sonst in fremden Sprachen. Und wo in der Aphasie und in ähnlichen Zuständen die Denkfähigkeit erhalten ist, da kann man bestimmt annehmen, daß z. B. die Worttaubheit oder Wortblindheit nur eine äußerliche ist, daß innerlich das Wort noch gehört oder gesehen wird. Nach völligem Verlust der Sprache haben solche Kranke durch Nicken oder Schütteln des Kopfes noch richtig die Frage beantwortet, ob bekannte Gegenstände, wie Messer und Gabel, mit dem zugehörigen Worte genannt wurden.

Zu der Dauer des automatischen Sprachgedächtnisses gehört es, daß selbst Deutsche in Amerika, wenn sie seit 50 Jahren nur englisch gesprochen haben, doch noch deutsch fluchen und in der Sterbestunde deutsch beten. Ribot (S. 120) macht dazu die ungehörige und richtige Bemerkung, daß "die Rückkehr mancher religiöser Anschauung in der Todesstunde nur die notwendige Folge einer unaufhaltsamen Auflösung ist."

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