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Individualität

Ein ähnlich eitles Spiel wie mit "Weltanschauung" wird auch mit "Individualität" getrieben. Nicht nur wer Auch Einer ist, nein, jeder Narr auf eigene Faust hört sich gern eine Individualität nennen. Dieser Wortgebrauch liegt weit ab von dem schwierigen naturwissenschaftlichen Begriffe Individuum. Und Auch Einer selbst will nicht zugeben, daß seine Individualität nur in seiner eigenen Sprache bestehe. Es ist aber nicht anders: beim Volke wie beim einzelnen ist die Sprache die entscheidende Eigenschaft.

Man hat aus theoretischen und praktischen Gründen oft gefragt, was denn eigentlich das Wesen der Individualität ausmache, was ein Volk, einen Stamm, eine Familie, eine Person so auszeichne, daß sie daran von anderen Völkern u. s. w. unterschieden würde. Die einzig richtige Antwort scheint mir zu sein, was fast zu banal ist, um gesagt zu werden: die Völker unterscheiden sich ja durch ihre Sprache. Und nicht nur die Völker, sondern auch die Stämme und Städte und Landschaften und Erwerbsklassen und Familien und Individuen unterscheiden sich durch ihren individuellen Sprachschatz. Man kann suchen, soweit man will, man findet nichts anderes. Besonders die Eigenheiten der Familienidiotismen sind da sehr lehrreich. Und wenn z. B. die Juden in Deutschland genauer auf sich achten würden, so müßten sie erkennen, daß sie so lange einen Stamm für sich bilden, als sie mehr oder weniger einen Jargon sprechen, der für nichtjüdische Deutsche unverständlich ist. Der Jude wird erst dann Volldeutscher, wenn ihm Mauschelausdrücke zu einer fremden Sprache geworden sind, oder wenn er sie nicht mehr versteht.

Kinder, Schulkinder einer bestimmten Stadt haben ihren Sprachschatz für sich. Er ist nicht einfach ärmer als der der Erwachsenen; da und dort ist er reicher.

Nun könnte man ja einwenden, der Sprachschatz sei nur die Blüte der Individualitäten, er sei höchstens ein Symptom, ein Erkennungszeichen der Gruppen, keineswegs aber ihr Grund, er sei nicht das principium individuationis. Und doch fällt er damit zusammen. Denn jeder Begriff des Sprachschatzes führt am letzten Ende zurück auf die individuellen Interessen einerseits, auf die individuellen Erfahrungen anderseits (Subjekt und Objekt), all das wieder auf den Organismus des Individuums, auf die Art seiner Bedürfnisse und seiner Sinnesorgane, und so am Ende aller Enden auf seine motorischen und sensiblen Nerven nebst deren unzugängliches Zentrum. So ist der Sprachschatz nicht nur ein Kennzeichen des Individuums, sondern zugleich auch sein Wesen, seine Eigenschaft; wie etwa Schwere, Farbe, Dehnbarkeit u. s. w. des Goldes zugleich das Kennzeichen, aber auch das Wesen des Goldes sind, da dieser Stoff eben nichts ist als die Summe seiner Eigenschaften.