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Telephongedächtnis

Man würde die Sprache nicht so überschätzt haben, wenn man diese menschliche Äußerung nicht für ein untergeordnetes Werkzeug eines viel höheren Organs gehalten hätte, des Denkens, und wenn nicht das Denken wieder für eine Erscheinungsform einer noch höheren Seifenblase genommen worden wäre, der man darum geradezu göttliche Ehren erweisen mußte. Diese höhere Blase ist das sogenannte Bewußtsein. Sieht man sich dieses Bewußtsein genau daraufhin an, so bleibt nichts übrig als die Tatsache der Erinnerung. Mensch und Tier, ganz gewiß auch die Pflanze, da sie sonst nicht ein Organismus geworden wäre, haben ein Organ der Erinnerung. Diese Erinnerung kann gar nichts anderes sein als die verhältnismäßig dauernde Wirkung der momentanen Sinneseindrücke. Diese Wirkung müßte für bessere Apparate, als wir sie haben, materiell nachweisbar sein. Das Denken, das Bewußtsein, die Sprache, das Gedächtnis, oder wie man sonst die Funktion des Gehirns nennen mag, ist der ungeheure Speicher der Erinnerung. Nur daß dieser Speicher die einzelnen Beiträge nicht mechanisch unterbringen kann, sondern wie in der Buchhaltung eines Weltspeichergeschäfts sich mit einer Art von Giro- und Scheckverkehr begnügt. Die unzähligen Sinneseindrücke werden auf eine beschränkte Anzahl von Namen gebucht, von Firmen, die miteinander in Verkehr stehen: von Worten. Etwas näher kommt man diesem komplizierten Institut eines Erinnerungsspeichers vielleicht durch einen anderen Vergleich. An das Berliner Telefonnetz sind ungefähr so viele Firmen angeschlossen, als der weiteste Weltkopf Wörter zur Verfügung hat. Bei der gegenwärtigen Einrichtung muß freilich das Fräulein im Amte das Beste tun, wie der alte liebe Gott beim alten lieben Okkasionalismus. Nun wäre aber eine Reihe unendlich empfindlicher Apparate denkbar, die automatisch die Blase Selbstbewußtsein im Telefonnetz herstellt. Ich denke mir das so. Im Amt I wohnt mein einziger Drucker, mit dem ich immer Ärger habe. Drücke ich nun, unbewußt vor Zorn heftig, auf den Knopf, so wird automatisch Herr A in Amt I angerufen. Bei Amt II ist der einzige Onkel B angeschlossen, bei dem ich schläfrig nach seinem Befinden anfragen will. Der schläfrige Druck löst Amt II aus und verbindet mich dort mit meinem Korrespondenten Herrn B u. s. w. Bei Amt VI suche ich jedesmal nur den einzigen Freund C und berühre ungeduldig den Knopf zweimal, was wieder durch Gewöhnung des Apparats an diesen feinen Unterschied automatisch Amt VI bei C auslöst. Wiederholen sich solche Nuancen bei allen 20 000 Teilnehmern, so können im ganzen Telefonnetz hunderttausend von Kombinationen entstehen, die ohne Mithilfe des lieben Gottes, der Seele oder des Telefonfräuleins arbeiten. Die gelehrte Psychologie würde es Gedankenassoziation nennen.

Mein geschickter Mechaniker, dem diese automatischen Kunststücke gelungen sind, würde nun noch weiter gehen. Ich müßte gar nicht an den Apparat herantreten. Ein lautes Diktieren wird meinen Drucker in Amt I, ein heftiges Gähnen meinen Onkel in Amt II und ein tiefer Seufzer meinen Freund in Amt VI rufen und ihn zu einer Eeaktion veranlassen. Z. B. wird beim Drucker eine neue Druckmaschine das laut Diktierte automatisch setzen, der Onkel wird zurückgähnen und der Freund wird meinen Seufzer zurückseufzen. Tritt zu dieser selbsttätigen Gedankenbewegung nun noch ein Kontrollapparat, der alle Schwingungen der elektrischen Leitungen, die im lebendigen Körper Nerven heißen, phonographisch so registriert, daß die Kurbel des Phonographen sich auf einen Reiz hin in Bewegung setzt und alles so lange herunterleiert, bis ich ihm befriedigt einen Stoß gebe; dann besitzt das Telefonnetz in der Tat einen selbsttätigen Denkprozeß, die dazu nötige Sprache, die Erinnerung in der üblichen Form der Schrift, und man kann ihm ehrlicherweise auch Selbstbewußtsein nicht absprechen.

Das Merkwürdige ist nur, daß dieses Wunder der Technik von unseren unerhört klugen Ingenieuren noch nicht erfunden worden ist, während die dumme Natur es in jedem lebendigen Organismus geschaffen hat. Wer daraus schließen wollte, der Organismus der Sprache sei ein rein mechanisches Kunstwerk, der wäre ein abergläubiger Materialist und würde immer wieder da enden, wo der moderne liebe Gott als Musterschüler eines Polytechnikums zu finden ist. Bell und Edison sind keine Götter und die Telefonfräulein sind keine immateriellen Seelen. Wir verstehen das Geheimnis der Erinnerung oder des Denkens oder der Sprache eben nur nicht, wie wir auch andere Geheimnisse der Organismen nicht verstehen. Was wir mit den groben Zangen der Sprache nicht fassen können, das bleibt für uns unfaßbar.

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