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Pflanzengedächtnis

Wir müssen unsere vollständige Unwissenheit nur deutlich einsehen. Man stellt das Verhältnis der Pflanzenseele zur Menschenseele gewöhnlich so dar, als wäre es ausgemacht, daß die Pflanzenseele ein zwar tierähnliches, aber nur ganz dumpfes Bewußtsein hätte, etwa wie das der niedersten Tiere. Das spricht einer dem ändern nach, und oft genug gebraucht man auch das falsche Bild von einem traumartigen Zustande, während doch der Menschentraum oft sehr scharf umrissene Gesichts- und Gehörvorstellungen bietet. Fritz Schultze glaubt den Kernpunkt zu treffen, wenn er sagt, die Pflanze habe wohl alle tierischen Empfindungen, aber sie besitze kein Gedächtnis, es fehle ihr darum Erinnerung, Ausblick auf die Zukunft, Verstand u. s. w. Wir, die wir in unserer Sprachkritik das Denken des Menschen mit seinem Sprechen identifizieren und in der Sprache das Gedächtnis des Menschengeschlechts wiederfinden werden, die wir also die Menschenseele, wenn wir das alte Wort beibehalten wollen, gerade als das Gedächtnis des Menschen definieren müssen, wir hätten allen Grund, eine Seele ohne Gedächtnis als hölzernes Eisen zu betrachten und darum die Ausdehnung des Seelenbegriffs auf die Pflanzen abzulehnen. Wir wissen aber wiederum, daß das Gedächtnis eine "Funktion" jedes organisierten Stoffes ist, daß auch die Pflanze ein unbewußtes Gedächtnis haben muß, daß also diese Unterscheidung zwischen Tier- und Pflanzenseele nicht richtig sein kann. Für uns fließen die Begriffe Vererbung, Instinkt und Gedächtnis zusammen. Ohne Gedächtnis könnte aus dem Keime der Eichel nicht ein Eichbaum werden. (Neuerdings, im Jahre 1904, hat Richard Semon das in seinem fremdwortfrohen Buche "Die Mneme" sehr gut ausgeführt.) Ob wir den Begriff Seele auf die Pflanze anwenden sollen oder nicht, das wissen wir nicht. Daß wir aber den Begriff Gedächtnis auf die Pflanze anwenden dürfen, das wissen wir wohl. Wir müssen freilich festhalten, daß das Menschengedächtnis an das Nervensystem gebunden ist, und daß die Pflanze so ein System unseres Wissens nicht besitzt. Dabei kann die Pflanze, ohne daß wir es ahnen, viel feiner organisiert sein als der Mensch oder die Ameise, dabei kann die Pflanze, wenn sie blüht und duftet, Entzückungen erleben, die über alle menschlichen Begriffe hinausgehen. Sie hat vielleicht eine Seele. Wir wissen nur nichts davon. Sie hat sogar wahrscheinlich irgend ein Gewebesystem, das die Reize vermittelt wie unser Nervensystem. Aber schon diese Worte "wie unser Nervensystem" waren unbedacht und haben keinen Sinn, denn wir haben kein Recht, eine Ähnlichkeit zwischen der Pflanzenreizvermittlung und der Tierreizvermittlung vorauszusetzen.