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Bert Brechts Hauspostille

Eine gute Eigenschaft Berlins: man kann die Stadt nicht jahrelang bluffen. Eine bessere Eigenschaft Berlins: ›Beziehungen‹ in der Literatur nützen weniger als man glaubt; Besuche bei Kritikern wären lächerlich (sind in Paris gang und gäbe) –, in Berlin setzt sich die starke Kraft sehr oft allein durch. Eine schlechte Eigenschaft Berlins: seine grenzenlose Undankbarkeit. Es kann einer fünfundzwanzig Jahre hindurch die beste künstlerische Arbeit geleistet haben; wenn er im sechsundzwanzigsten aus irgend einem Grunde nachläßt oder seiner Zeit nicht mehr zu folgen vermag oder krank wird –: dann ist er vergessen und begraben und wird höhnisch abgetan. »Gott! (mit drei t) – der Mann ist doch passé!« Berliner Anilinruhm ist nicht ungefährlich.

Bert Brecht wird das eines Tages merken. Um wie viel er heute überschätzt wird, um so viel wird er eines Tages unterschätzt werden, und beides sehr zu unrecht. Dieser Mann ist auf dem Theater ein sehr beachtliches Talent, und in der Lyrik mehr als das. Da ist vor einiger Zeit seine ›Hauspostille‹ (im Propyläen Verlag zu Berlin) erschienen, und ich habe absichtlich gewartet, um zu sehen, wie diese Gedichte aussehen werden, wenn sie eine Weile lagern. So sehen sie aus:

Sie vermitteln den stärksten Eindruck, den unsereiner in der letzten Zeit in deutscher Lyrik gefunden hat. Es mag sich nun jeder seine Lieblingsstücke heraussuchen und auswendig lernen. Wenn ich die meinen zu analysieren versuche, so bedeutet das keine abfällige Kritik an allen andern – mit Ausnahme einer Gattung. Das sind die wildromantischen ›songs‹. An die glaube ich nicht.

Was das Land ›Mahagonny‹ angeht, so ist es ein gut bürgerliches Land, es blüht daselbst der Nußbaum und die gute Eiche, aus der man die Bücherregale macht. Die ›Drei Soldaten‹ heißen George, Freddy und John und mit Nachnamen Kipling; und es ist ein großer Unterschied, ob ein Angelsachse solch ein Leben der Soldaten mitlebt oder ob ein Bayer, der seine Dumpfheit niemals ganz los wird, sie nachlebt. Es gibt da eine innere Wahrhaftigkeit, über die keiner hinwegtäuschen kann. Der Rest dieser Gattung ist – mit Ausnahme der wunderschönen Ballade von des Cortez' Leuten –: Freiligrath. Ich habe diesen Dichter, in dessen Werk sich große Gaben und Lächerliches absonderlich mischen, nun noch einmal nachgelesen – die Ähnlichkeit ist überraschend. Wie da die Liebe zum fremden Land erst ursprünglich war, dann immer mehr benutzt wird, wenn das Eigene nicht reicht – wie da die fremden Namen auf den verblüfften Leser herunterdonnern: Na? Siehst du? so exotisch geht es bei uns zu … , wie da dem fremden Kontinent alles, alles zugemutet wird, nur keine Spießer, während doch grade die bei den Cowboys genau so wild wachsen wie bei den Skatindianern, nur eben in andern Formen –: diese bunten Lieder Brechts sind bester Freiligrath und schwächster Brecht. Dies vorweggenommen, hat man freilich den Hut abzunehmen.

Durch ›Apfelböck‹ schon zieht ein Ton, der weit über Wedekind hinausgeht, und das will etwas besagen. Man durchblättere heute noch einmal die Gedichte Wedekinds, sie sind lange nicht so verstaubt wie seine meisten Dramen. Nun aber:

S. 24. ›Morgendliche Rede an den Baum Green‹. Das ist ein ganz neuer Ton, den wir noch nie gehört haben. Dieser Zusammenklang aus Keßheit, Scham, Kameradschaft, großer Stadt und ganz simpler Natur, der unwägbare Rhythmus, der durchgeht, das ist echte Kraft, hier wird nicht geprotzt, hier spricht ein Meister. Da öffnet sich die Faust eines Boxers und streichelt; die Liebkosung ist etwas hornig, aber wenn du genau hinfühlst, ist sie viel zarter als die einer Frau.

S. 27. ›Bericht vom Zeck‹. Das ist wie ein altes bayerisches Glasbild. Wunderschön, wie die Farbe Violett, die Baudelaire entzückt hat, auf diesen in den Knochen groben, im Leiden feinen B. B. wirkt. Violett – das will er nicht, das ist Fieber und Gift und Malaria und etwas, was zwischen den Farben ist. Hier übrigens wie in sehr vielen andern Gedichten sitzt jedes Wort wie mit Stahl genietet – unmöglich, auch nur eines herauszunehmen, der ganze Bau stürzte zusammen.

S. 33. ›Vom Mitmensch‹. Höhepunkt und Vorspiel zu der noch schönern ›Ballade von den Geheimnissen jedweden Mannes‹ (S. 57). Die kindlich törichte Einteilung »Wir und die andern«, die auch jenes »O-Mensch!«-Geschrei nicht hat durchbrechen können, ist hier völlig aufgelöst.

Ihr, die ihr ihn werft in die schmutziggelben Meere
Ihr, die ihr in schwarze Erde ihn grabt:
In dem Sack schwimmt mehr, als ihr wißt, zu den Fischen
Und im Boden fault mehr, als ihr eingescharrt habt.

»Weil er niemals«, heißt es in dem Refrain, »weil er niemals den ihr kanntet, war. Und der Täter nicht nur seiner Tat.« Was an diesen Versen besonders merkwürdig berührt, ist, dass sie nicht gütig sind. Brecht hat überhaupt nichts Gütiges – es ist etwas Jugendlich-Grimmiges darin und Verzweiflung, Güte nicht. Gäbe es auch nur hundert deutsche Richter, die diese Gedichte verständen –: es stünde besser um unsre Justiz.

An reiner Lyrik scheint mir das Schönste – neben dem Baum Green – dies Doppelbildnis zu sein ›Vom Klettern in Bäumen‹ und ›Vom Schwimmen in Seen und Flüssen‹. Hier ist das erreicht, was die Mahagonny-Männer mit viel Geschrei und deutschem Whisky niemals erreichen –: hier löst sich das Gedicht in Landschaft, der Mensch in Natur auf. Gegen einen bleichen, unbeteiligten Himmel steht schwarz der Wald, diese Natur ist weder Folie für einen exorbitanten Kerl noch Kulisse noch Altar – sie ist; weiter nichts. Ich hätte es niemals für möglich gehalten, dass es im Zeitalter der Kollektivität noch einmal etwas so grenzenlos Einsames, so Losgelöstes geben könnte. Dieser Mensch, der da klettert und schwimmt, ist ganz allein. Während man bei der zünftigen Lyrik nie, niemals das Gefühl los wird: »Ja – aber mit Rente! und was wird, wenn du die nicht hast, alter Parkschlenderer?« – ist hier einer mit sich und neben seinem Gott ganz allein. Dieser Gott schwimmt abends wirklich in den Flüssen, und es ist alles wahr, was in diesem Gedicht steht. Kleines Merkzeichen für sehr große Lyrik: sie will nicht komponiert werden.

Über S. 125 brauche ich in der ›Weltbühne‹ nichts zu sagen; da steht die ›Legende vom toten Soldaten‹. Wer die nicht kennt, sollte schon um ihretwillen das Buch in die Hand nehmen. Den Preußen hats ja mancher besorgt – so gegeben hats ihnen noch keiner. Sie graben den toten Soldaten aus, wie ihr euch erinnert, eine ganze

militär-
ische ärztliche Kommission

und nehmen ihn mit …

Und sie nahmen sogleich den Soldaten mit.
Die Nacht war blau und schön.
Man konnte, wenn man keinen Helm aufhatte
Die Sterne der Heimat sehn.

Und sie schütten ihm Schnaps ein, geben ihm 2 Stück Krankenschwestern zum Geleit und 1 Stück Feldgeistlichen und

Voran die Musik mit Tschindrara
Spielt einen flotten Marsch.
Und der Soldat, so wie ers gelernt
Schmeißt seine Beine vom Arsch.

Und so ziehen sie denn dahin, Sanitäter und noch ein Mann im Frack, alle Dörfer, durch die sie kommen, geraten in Aufruhr …

Die Katzen und die Hunde schrein
Die Ratzen im Feld pfeifen wüst:
Sie wollen nicht französisch sein
Weil das eine Schande ist.

Und so zieht er denn zum zweiten Mal in den ff. Heldentod.

Das ist eine lyrische Leistung großen Stils, und wie man mir erzählt hat, soll das Lied in den Kreisen junger Kommunisten beginnen, populär zu werden. Was zu hoffen steht.

Im Abgesang ›Vom armen B. B.‹ ist noch einmal alles enthalten, was dieses Buch uns wert macht und auch das, was drum herumhängt: Pose, Verzweiflung, echter Schmerz, eine gemachte Kälte, die Wärme zu sein vorgibt, wo echte Kälte ist, und eine herrliche lyrische Diktion. Nur noch die Jugendgedichte von George Grosz haben diesen Ton – sonst wohl nichts.

Brecht ist ein Gehauter – und ich habe fast Furcht, mich an ihn zu verlieren. Er zwinkert – hat er uns hineingelegt? Ich glaube, er hat es ein paar Mal versucht, er ist wohl böse von Natur und ein bißchen tücksch und kann es nicht lassen. Aber mag er böse sein. Er kann nicht nur viel, er ist nicht nur ein Sprachmeister; er hat, um einen berliner Ausdruck zu gebrauchen, ›er hat was drin‹.

Er und Gottfried Benn scheinen mir die größten lyrischen Begabungen zu sein, die heute in Deutschland leben.

Peter Panter
Die Weltbühne, 28.02.1928, Nr. 9, S. 334.