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Die Ursachen

Wie mit unserer Arbeitskraft umgegangen wurde

In den vielen tiefgründigen Untersuchungen unserer Professoren über den Krieg habe ich ein einziges kluges Wort gefunden, das die Unbeliebtheit der Deutschen im Auslande besser erklärt als ein dickleibiger Wälzer. Ein Franzose, so erzählt der Professor, habe auf die Frage, warum man uns denn allenthalben nicht leiden könne, einfach geantwortet: »Ils travaillent trop. Sie arbeiten zu viel!« – Arbeiteten wir? Wir schufteten. Und mit welchem Erfolge? Mit welchem Erfolge?

Bei den »Preußen«, wie die Soldaten mit Recht in Deutschland genannt wurden, wurde unsinnig gearbeitet: unsinnig viel und unsinnig unnötig. Wenn ich im folgenden einige Kriegserfahrungen erzähle, so beschränke ich sie auf ein Mindestmaß, weil ich glaube, dass es gar nicht so sehr auf die Erlebnisse eines einzelnen ankommt – die immer zufällig sind –, sondern darauf, was unsereiner, der nicht vom Kommiß verbildet ist, mit klaren, blanken Zivilaugen im Kriege gesehen hat.

Worunter wir in erster Linie litten, das war ein unmäßiges Schreibwerk. Dieses Schreibwerk lastete wie ein Block auf aller praktischen Arbeit und lähmte sie. Es wurde viel mehr geschrieben als getan – ja, es wurden manche Dinge überhaupt nur getan, um »gemeldet« zu werden.

Ich leitete anderthalb Jahre lang im Osten eine kleine Felddruckerei –, und wir druckten für unsere Formation von 4000 Mann monatlich bis zu 23000 Bogen Papier für Formulare. Jeder Feldwebel hatte seine eigenen Formulare, auf die er besonders stolz war, jeder Kompanieführer dachte sich extra schöne Verpflegungsbescheinigungen, Stärkenachweisungen, Rapporte und Meldeformulare aus. Kam dann nach ein paar Monaten ein neuer Mann an die Spitze, so warf er den Apparat des alten weg, und es ging alles wieder von frischem an.

Dieser »Schreibfimmel«, um es einmal mit einem soldatenmäßigen Ausdruck zu benennen, hatte seinen Grund in der sinnlosen bureaukratischen Organisation, mit der alles angefaßt wurde. Die Leute waren unfähig, anders als in verwickelten Einrichtungen zu denken, sie konnten sich gar keine Ordnung vorstellen, wenn sie nicht ungeheure Verzeichnisse, Register, Meldungen und tägliche Rapporte hatten. Nun ist Ordnung eine sehr schöne und notwendige Sache – Organisation ist es auch –, aber dies war Wahnsinn, war Überorganisation.

Ich stand einmal bei den »Schippern« – da ließ sich der Divisionär jeden Tag melden, wieviel Unterstände gebaut waren, wieviel Meter Schützengraben und all das. Gut und schön. Aber sei es nun, dass er sonst nichts zu tun hatte, sei es, dass sich ein Offizier im Stab besonders beliebt und unentbehrlich machen wollte: die Meldungen wurden von Woche zu Woche komplizierter, und schließlich lagen auszufüllende Formulare vor uns, die die stramme Arbeitskraft eines gebildeten Menschen während zweier Stunden erforderten, um richtig erledigt zu werden. Was sollte das?

Dieses System hat unendlich viel Kraft und Lust verschwendet. Es fing in Berlin bei den Zentralstellen an und hörte im Graben im Bataillonsunterstand auf. Unser Terminkalender wuchs und wuchs – wir hatten bis zu hundertundfünfzig Meldungen im Monat – ich bin davon überzeugt, dass viele nie gelesen worden sind. Eines Tages – das war bei den Fliegern – kam aus Berlin von der Inspektion der Fliegertruppen ein Formular, das war – ungelogen – einen Meter lang; wir haben es nachgemessen. Es war so lang, dass wir den Nachdruck nicht auf unserer Steindruckpresse besorgen konnten und arge Schwierigkeiten hatten; es enthielt achtundsechzig Rubriken. Wem nützt dergleichen? Das war eine Ordnung, die schließlich in Unordnung ausartete.

Die Schreibsucht grassierte in allen Formationen, und je weniger sie zu tun hatten, desto mehr schrieben sie, um ihre Existenzberechtigung nachzuweisen. Ich besinne mich, dass ich manchen Federhalter bei der politischen Polizei zerkaute, um den fälligen Bericht, den Schrecken aller Dienststellen, ans Tageslicht zu fördern. Hätten wir die Wahrheit geschrieben: »Hier ist nichts los« – ich glaube, der Chef hätte uns aufgefressen. Nun, und so schrieben wir denn, wie es verlangt wurde.

Das Schreibwesen richtete sich selten nach den Anforderungen des Feldlebens und hat manchem Soldaten den Dienst zur Hölle gemacht. Ehe einer einen Zahn gezogen bekam, ehe er einen Nagel erhielt, ehe er eine Drillichjacke fassen konnte – was wurden da für Zettel aufgeschrieben und für Listen ausgefüllt! Und die »Kerls« warteten, bis ihnen die Beine steif wurden – das schadete nichts. Die Hauptsache war die schöne Liste. Und dabei nutzte das nicht einmal etwas: wollte der Offizier etwas haben, so bekam er es gleich, reichlich und ohne allen Listenkummer. Kisten wurden gestohlen, und um einen Nagel wurden Korrespondenzen geführt.

Dazu kam ein eigenartiger Erbfehler aller Dienststellen: sie hatten alle Tafeln, aus denen ersichtlich sein sollte, wo sich jedes Glied der Dienststelle – sei es Pferd, totes Material oder Mann – gerade befand. Da hingen bunt angemalte Lappen mit den gefährlichsten Zeichnungen und Quadraten und Linien, und Schemata – und es klappte natürlich niemals genau, weil man eben das lebendige Leben nicht in Schemata hineinpressen kann, und weil jede, auch die feinste Organisation nicht ganz auf das Leben herunterreicht. Aber das kümmerte die genialen Organisatoren nicht. Wenn sie nur ihre Listen hatten –!

Aus Listen allein läßt sich aber gar nichts ersehen. Das Leben triumphierte: in diesem Falle die Schiebung. Was ist nicht alles bescheinigt worden! Was wurde nicht alles registriert! Alles, einfach alles! Da sprachen sich Fliegeroffiziere die Zulage von 150 Mark monatlich zu, die ihnen nicht zustand – aber man fand irgendeinen Dreh, die Angelegenheit buchstabengerecht zu machen – da fuhren Offiziere auf

»Urlaub zur Wiederherstellung der Gesundheit«, weil sie dann irgendeine Fahrgeldvergütung hatten – – bescheinigt? bescheinigt wurde alles. Da hagelte es ärztliche Atteste, da regnete es Bescheinigungen, – war nur das Papier da, dann war alles in Ordnung.

Oh, wir arbeiteten! Oh, wir haben gearbeitet! Aber fragt mich nur nicht, wozu und zu welchem Nutzen! Unsere Kriegskorrespondenten und Berichterstatter konnten gar nicht genug Rühmens machen von der musterhaften Sauberkeit und Ordnung unserer Feldgrauen – ach! wenn sie hinter die Kulissen gesehen hätten! Wo hat der deutsche Soldat wirklich bequeme und leicht zu erreichende Badegelegenheit gehabt, wer von uns hat sich täglich von Kopf bis zu Fuß waschen können? Ich rede nicht von den Grabenbesatzungen in »schönen Gegenden« – die konnten es nicht, aber was wurde in der Etappe gebaut und gebaut, und wie wenig hat der Mann von der ganzen Schufterei gehabt! Kennt ihr das Schild: »Nur für Offiziere?« Ich kenne es.

Gebaut wurde immer. Ich erinnere mich noch mit Schaudern und mit Vergnügen, wie es niemals abbrach: wir konnten ein halbes Jahr, ein ganzes Jahr in einer Ortsunterkunft liegen – es wurde immer weiter und immer wieder gebaut! Wieviel Material ist da verschleudert worden! Welche Unsummen von Geld und in Deutschland so notwendigen Baumaterialien sind da draufgegangen und sind jetzt in fremden Händen! Nur damit der betreffende Kompaniefüher den Inspizierenden durch »seinen« Laden führen konnte: »Dies alles ist mir untertänig!« Welch Stolz, wenn die Muschkoten wochenlang geschuftet hatten, und sich die Landschaft nun dem entzückten Auge des besichtigenden Beschauers präsentierte: kleine Gartenwege, geharkt und gekiest – alles, auch die unsinnigsten Sachen, in einer Reihe aufgebaut (wenn die Preußen einmal die Sterne in ihre Gewalt kriegen, bauen sie die auch in einer Reihe auf), und vor allem: die Birkenzäunchen! Wer entsinnt sich ihrer nicht! Was wurde aus den Birken für alberner Schmuck hergestellt! Nebenbei gesagt, waren die Dinger alle geschmacklos: diese Gartenläubchen und diese Stege, diese Bismarckbrücken und diese Pförtchen zu Ehren irgendeines Generals! Dafür war Zeit vorhanden, dafür war Arbeitskraft vorhanden, dafür waren die Kerls gut genug! Kam die nächste Formation, riß die den Plunder zusammen und baute sich etwas ganz Neues. Und so verging die schöne und große Zeit …

Dieser Wahnsinn steckt tief im deutschen Volk. Er muß herausgetrommelt werden – er hat uns unzählige Millionen in bar gekostet, und der Schade, den der Unfug der Überorganisation in unseren verärgerten und verbitterten Gemütern angerichtet hat, läßt sich zahlenmäßig gar nicht ausdrücken – so groß ist er. Es war hirnverbrannt, neben dem Maschinengewehr im Graben kleine Blumenrabatten anbringen zu lassen – und das geschah nicht etwa, weil sich die Mannschaft langweilte. Sie langweilte sich nicht – o nein – sie ruhte sich aus … Aber die Stabsoffiziere mußten doch einen fröhlichen Kriegsschauplatz dargeboten bekommen! Und sie bekamen ihn. Es ist hirnverbrannt, überall ein Riesenbureau aufzumachen; es ist hirnverbrannt, das Geschäftszimmer zum gefürchteten Mittelpunkt all und jeder Tätigkeit zu machen.

Haben wir gelernt? Ist die Überzeugung von der Unsinnigkeit des Militarismus schon ganz allgemein in Deutschland? Fast scheint es nicht so. Ich habe in der Weltbühne in den Nummern 2 und 4 bis 9 dieses Jahrganges die »Militaria« beleuchtet – und ich hatte allerdings erwartet, dass die Getroffenen aufschreien würden. Aber ich hatte nicht geglaubt, dass ihrer so viele wären. Wer meldete sich da nicht alles! Stellenjäger und Stelleninhaber, Offiziere und Etappenschweine mittleren Kalibers, sie waren alle, alle noch da. Verstehen kann man es, wenn denen unsere Kritik in die Knochen fährt: denn ihre große Zeit ist dahin. Dahin die durchtollten Nächte in den Kasinos, dahin die Befehle an den Küchenunteroffizier, dahin die gemüselosen Tage, dahin der billige Sekt und dahin die dunkeln Lebensmittelgeschäfte. Die Zeit ist wieder klein geworden, nicht wahr? Aber wir wollen aufpassen, dass sie nicht wieder groß wird – denn wir haben gesehen, wieviel Schufte in so eine große Zeit hineingehen!

Was allein für uns von Belang ist, das ist die Gesinnung. Da helfen keine Paragraphen, das wissen wir alle von unserem beruflichen Leben her. Jeder machts doch nur so, wie er wirklich will – und stören ihn Bestimmungen, dann dreht er sich die zurecht, bis sie passen.

Pflegt die Gesinnung! Wer hat sich im Kriege um den Geist der Leute gekümmert? Wer hat wirklich den Dingen auf den Grund gesehen und sich den Teufel um die Paragraphen geschert? Keiner.

Und weil wir denselben Jammer, wie wir ihn beim Militär kennengelernt haben, immer wieder und wieder auch im Zivil bei der Verwaltung sehen, deshalb rufe ich: Nieder mit der Überorganisation! Es lebe der gesunde Menschenverstand!

Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 01.05.1919.