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Vorgang beim Treppensteigen

Ich habe Friedrich zu mir geladen, auf den Montag. Ich wohne vier Treppen hoch – das weiß er aber nicht. Er setzt sich an der Place du Panthéon in sein erschriebenes Auto und fährt gemächlich zu mir – es ist nicht nah und auch nicht weit. Unten, vor dem Haus, steigt er ab, nennt vor dem Portier in fließendem Französisch meinen Namen und beginnt zu klettern. Er hat genau gehört, wo ich wohne – er hats aber nicht bedacht.

Die erste Treppe steigt er hinauf, ganz beschäftigt damit, Stufen zu steigen, in jener seltsamen Geistesabwesenheit, die einen auf allen Treppen der Welt befällt, wenn man allein hinaufsteigen muß. Auf der zweiten ist es grade noch so. Hier macht er eine unmerkliche Atempause, genau so lang, um zu lesen, dass er erst auf der 1. Etage ist, Zwischenstock wird nicht mitgezählt, mogeln gilt nicht, alle Hauswirte mogeln. Auf der dritten Treppe schicken die Beine eine kleine Karte ins Gehirn: was das wäre. Ob sie hier immer noch so weiterklettern sollten! – sie wären nunmehr müde. Na ja, sagt das Gehirn, gleich.

Hier hebt sich Friedrichn die Brust, und nun steht er auf dem dritten Treppenabsatz, liest: ›2ème Escalier‹ – da wird er nachdenklich.

Auf der vierten Treppe gehen wilde Sachen in dem Besucher vor. Blitzschnell dieses: »Donnerwetter, ist das hoch! Ich werde zu dick, mich strengt das zu sehr an –«, und sofort, automatisch, kehrt sich diese winzige Ohnmacht gegen den Verursacher der Ohnmacht, er ist schuld, nur er! Dolchstößer! und nun, sehr allgemein: »Wie kommt es, dass dieser Kaspar eigentlich so hoch wohnt? Hat er kein Geld? Liebt er das? Was soll das?« Und dann, weit ausholend: »Was ist das überhaupt für ein Mensch, der Hauser?« Sprunghaft arbeitet das Gehirn, ameisenhaft krabbeln sehr schwarze Gedanken darin umher, und grade, grade schlängelt sich wie ein länglicher Wurm eine aalige Bosheit in die Cerebralgänge, etwa: »Verlohnt denn der Herr eigentlich die vier Trep –« da hat er die letzte Stufe erklommen, ist oben, atmet tief auf und klingelt.

Welch fröhliches Gelärm höre ich an der Tür! 's ist mein lieber Gast, der Friedrich! Er hat sein liebenswürdigstes Gesicht angelegt.

»Guten Tag, gnädige Frau! Guten Tag, mein lieber Hauser! Na, wie gehts d – –«

Du Hund.

Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 15.11.1927, Nr. 46, S. 765.