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Der Privatmann im Theater

Man hat mich oft nach dem Unterschied zwischen dem französischen und dem deutschen Theater gefragt. Hier ist einer: das französische Theater hat ein zugleich raffinierteres und naiveres Publikum als das deutsche. Denn wie geht der Deutsche ins Theater –?

Jeder Dramatiker hat bei einem deutschen Publikum eine sehr merkwürdige Schwelle des Widerstandes zu überwinden: nämlich den hohen Zaun, der bei uns den ›Privatmann‹ von einer Öffentlichkeit trennt, vor der er Angst hat. Einer der Gründe, weshalb es in Deutschland kaum eine wahre Öffentlichkeit wie in romanischen Ländern gibt, ist, dass der Deutsche sich auf das strengste die Annahme verbittet, er könne am Ende selber mit dem gemeint sein, was da öffentlich abgehandelt wird. Daher sieht der deutsche Zuschauer sehr oft so aus:

Er ist ganz hingegeben an die Kunst, die ihm da vorgeführt wird; er versteht auch etwas vom Theater und verlangt viel von ihm (viel mehr und anderes als der Franzose von seinem, das denn auch – für deutsche Begriffe – recht jämmerlich ist). Der Deutsche nimmt schwer teil, er »sieht sich die Sache mal mit an«. Aber es bedarf einer Ungeheuern Energie der Künstler, bis er mitgeht. Er fühlt sich so selten getroffen – er will sich nicht getroffen fühlen, außer, wenn man ihm schmeichelt.

Aber mach ihn auf Unvollkommenheiten aufmerksam; zeig ihm, wie lächerlich vieles in unserm Leben ist; wie oft wir alle versagen; wie die Würde von hinten aussieht, der Beruf, das Tamtam der Ämter, die falschen Ansprüche der Politiker, der Ärzte, der Literaten, der falsch-mondänen Frauen: er wird es, vielleicht, für diesen Fall anerkennen. Aber niemals, niemals für sich selbst.

Das, was sich da auf dem Podium abspielt, einen halben Meter höher als die Leute im Parkett, hat für eben dieses Parkett seine eigenen Gesetze, ist gewissermaßen außerhalb der Welt, ist für sich – soll nicht in das Privatleben hineinreichen. Versuche, an die innern Seiten der Hörer zu rühren: sie liegen so tief, so versteckt, so gut verpackt, dass sie nur sehr, sehr schwer schwingen. Schade, dass man kein Theaterpublikum fotografieren kann. (Karl Arnold hats einmal gezeichnet: mit den offenen Nasenlöchern, den runden Augen, dieser merkwürdigen Mischung von Hingebung und Abweisung) – schade, dass man es nicht fotografisch getreu aufzeigen kann.

Dann sähe man nämlich diesen scharfen Zug um die Nase, der da besagt: »Bis hierher und nicht weiter.« Der besagt: »Ja, aber ich doch nicht!« Der besagt: »Ich sitze hier, bin richtig und tadellos angezogen und gewaschen und rasiert; ich habe eine mir zustehende Fünfzimmerwohnung, und es ist überhaupt soweit alles in Ordnung. Nun macht mir mal was vor.« Die Distanz ist ungeheuer groß.

Der Lateiner, vor allem: der Grieche, der im Franzosen steckt, fühlt viel schneller, dass auch er natürlich gemeint ist; dass ihn nichts, aber auch gar nichts von der Figur da oben trennt – dass er kein feierlicher Einzelfall ist, den es nun nie wieder auf der Welt geben wird. Er identifiziert sich leichter, weil er seine Individualität in der Öffentlichkeit nicht so hoch bewertet wie der Deutsche. Das ist eine Feststellung, kein Lob oder Tadel – wie ja überhaupt bei Vergleichen zwischen Völkern mit Lob und Tadel nicht viel getan ist. Man kann immer nur beschreiben. Geändert wird dadurch nichts.

Ich glaube nur, dass diese Haltung der deutschen Privatperson, die überall – im Theater, im Reichstag, in der Volksversammlung, auf der Universität, im Geschäft – einen komisch anmutenden Trennungsstrich zwischen dem ›Menschen‹ und dem ›Fachmann‹ zieht, einen kleinen Rechenfehler macht: es gibt nämlich beide nicht. Es gibt keinen reinen ›Menschen‹, und es gibt kein Ding, das den ›Menschen‹ weggepackt hat und nur noch ›Fachmann‹ ist, den ganzen Tag über Fachmann. Eines durchdringt so sehr das andere, dass keiner das Recht hat, Unstimmigkeiten dem einen Konto ab- und dem andern gutzuschreiben. Vom lieben Gott aus gesehen, gibt es nur das lebende Individuum – und weiter nichts.

Und darum ist der deutsche Zuschauer im Theater so sehr schwer zu packen, tief innen, da, wo die ›Kunst‹ aufhört und das andere anfängt. Sie schämen sich. Sie haben eine leise Furcht. Sie glauben, es ginge etwas von ihrer Würde ab, und das tuts ja auch, denn diese Würde ist nicht regendicht. Große Kunst macht den Beschauer klein, und der Deutsche hat das nicht sehr gern. »So kann sich vielleicht Wallenstein gebärden – aber ich, der Generaldirektor Schlichter? Das wäre ja noch schöner.« Und sieht nicht, dass zwar das Heldenhafte selten ist, aber nicht das Leid Hauptmannscher Figuren, das Erdenleid bei der Kollwitz, die Komik bei Sinclair Lewis, die Unzulänglichkeit, die Schwejk uns empfinden läßt. Alles geben sie zu – nur nicht die Anwendung des Vorgeführten auf die eigene Person. Die bleibt hübsch draußen und spielt Privat.

Bei uns ist jeder allein – sie könnten einen Reichsverband Deutscher Einsiedler gründen. Denn jede deutsche Einsamkeit ist viel kollektiver, als sie glauben, und jeder Individualist viel mehr Maschinenware, als er glaubt. Es sind nur Einzelabgüsse derselben Form: der deutschen.

Der Lateiner hat nicht die starken Ansprüche an die Öffentlichkeit, er nimmt sie nicht so ernst und sich erst recht nicht. Daher die weitaus größere Glätte im Verkehr, in den Beziehungen der Menschen, die – bis zu einem gewissen Grade – so entgegenkommend sind, weil sie einen kleinen, äußeren Teil ihrer Person neutralisiert haben. Was allerdings danach kommt ist, ist noch privater als privat.

O du Privatmann im deutschen Theater, in der deutschen Öffentlichkeit! Sitz nicht da, als hätten sie dich auf Draht gezogen; zieh dein Kinn nicht ein; lockere die Würde und die Bremsen deines Selbstbewußtseins! Denn auch du, Onkel Fachmann, bist – was du auch sagen magst – nur das, was du leider nur zu Hause im Pyjama, im Schlafrock und in der Badewanne zu sein wagst: ein Mensch.

Peter Panter
Vossische Zeitung, 02.12.1928, Nr. 570.