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Leere

Manchmal, wenn das Telefon nicht ruft, wenn keiner etwas von dir will, nicht einmal du selber, wenn die Trompeter des Lebens pausieren und ihre Instrumente umkehren, damit die Spucke herausrinnt … dann horchst du in dich. Und was … dann ist da eine Leere –

Dann ist da gar nichts. Die Geräusche schweigen; nun müßte doch das Eigentliche in dir tönen … es tönt nicht. Horche, dass sich dir die Stirn zusammenzieht – vielleicht ist es gar nicht da, das Eigentliche? Vielleicht ist es gar nicht da. Überfüttert mit Geschäften, Besorgungen, mit dem Leben, wie? Und das Fazit? Leere – Der Herr sollten sich wieder mal verlieben! Der Herr sollten nicht so viel rauchen! Schlecht geschlafen, was? … Die Witze rinnen an dir ab; das ist es alles gar nicht. Leer, leer wie ein alter Kessel – es schallt, wenn man dran bumbert …

Das wäre ja wohl der Moment, in den Schoß von Mütterchen Kirche zu krabbeln. Nein, diesem Seelenarzt trauen wir nicht mehr recht – wir wissen zu viel von ihm: wie er das macht, wie das funktioniert … ein Arzt muß ein Geheimnis haben. Das da ist wohl nichts für uns.

Aber die Indikation Gebet ist zutreffend. Was hast du? Lebensangst? Todesangst hast du. Auf einmal ist es aus, auf einmal wird es aus sein. »Ich werde mir doch sehr fehlen«, hat mal einer gesagt. Ja, Todesangst und dann das Gefühl: Wozu? Warum das alles? Für wen? Gewiß, im Augenblick, wenn du nichts zu fressen hast, dann wirst du schon herumlaufen und dir was zusammenklauben, aber so ein echter, rechter Lebensinhalt dürfte das wohl nicht sein. Du hast dir zu viel kaputt gedacht, mein Lieber. Du probierst den Altarwein, du berechnest die Ellen Tuch, die an der Fahnenstange flattern, du liest die Bücher von hinten und von vorn … Gott segne deinen Verstand.

Dann wirst du langsam älter; wenn das Gehirn nicht mehr so will, setzt eine laue Stimmung ein, die sich als Gefühl gibt. Du siehst den kleinen Tierchen nach, wie sie im Sande krauchen, Gottes Wunder! du blickst auf deine eignen Finger, jeder eine kleine Welt, ein Wunder an Gestaltung auch sie, es lebt – und du weißt gar nicht, was das ist … Und dann noch einmal: Aufstand, große Aufrappelung, heraus da, vergessen!

Vergessen und zu Ingeborg kriechen wie ein Söhnlein zurück in der Mutter Leib; noch einmal: »Hallo, alter Junge! Na, auch da? – Heute abend? aber gewiß! Wohin? Zu den Mädchen – hurra!« Noch einmal: so ein dickes Buch und die halbe Bibliothek verschlungen, versaufen in Büchern … noch einmal die ganze Litanei von vorn. Nur mit diesem unterkietigen Gefühl als Grundbaß: Vergebens, vergebens, vergebens.

»Jede Zeit«, lautet der flachste aller Gemeinplätze, »ist eine Übergangszeit.« Ja. Daß doch einer aufstände und an die Laterne brüllte: dass er nicht mehr mitmachen will – und dass es ein Plunder ist, ein herrlicher, und dass es anders werden soll – und dass nicht die Dinge regieren sollen, sondern der Mensch … ach, du grundgütiger Himmel. Da – hier haben Sie einen philosophischen Sechser: Jedes Leben ist ein Übergang – von der Geburt an bis zum Tode. Machen Sie sich dann einen vergnügten Lebensabend …

Wieviel tun wir, um diese Leere auszufüllen! Wer sie ausfüllt und noch ein Meterchen drüber hinausragt, der ist ein großer Mann. Wo einer seinen Kopf hat, hoch oben in den Wolken –: das besagt nicht viel. Aber wo er mit den Füßen steht, ob auf der flachen Erde oder tief unten … das zeigt ihn ganz. Und wer dann noch lachen kann, der kann lachen. »Sie werden doch nicht leugnen, dass die Entwicklung der modernen Industrien … « Die Trompeter blasen. Ja doch, ich komme schon.

Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 29.04.1930, Nr. 18, S. 672.