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Ein Schädling der Kriminalistik

I

Es erscheint der Verfasser eines Wälzers und gibt an, zur Person:

»Ich heiße Heindl, Robert, nicht vorbestraft, ich bin Wirklicher Legationsrat und Vortragender Rat z. D. in Berlin; ich gebe zu, das Buch ›Der Berufsverbrecher, ein Beitrag zur Strafrechtsreform‹ verfaßt zu haben.«

Zur Sache:

Dieses schlecht gedruckte Buch gibt weniger über den Berufsverbrecher Aufschluß, als über den deutschen Berufsbeamten, und vorzüglich über den, der sich mit dem Strafvollzug beschäftigen darf. Das Buch ist, um seinen exorbitanten Preis zu rechtfertigen, künstlich aufgeplustert; es enthält Fotografien, die nur in losem Verhältnis zum Text stehen, und bei deren Anblick man sich des Eindrucks nicht erwehren kann, als seien diese Schaueraufnahmen nur um der Sensation willen eingefügt. Für solche Bilder gibt es ja immer ein Publikum … Der Text aber verdient keinen Gaffer, der hochroten Kopfes die Bilder durchblättert, bis er eine Entspannung findet, wie sie höhern Offizieren nur noch der Krieg verschaffen kann – dieser Text verdient eine ernsthafte Kritik.

Er verdient keine ernsthafte Kritik, denn er ist unwissenschaftlich und schlecht geschrieben; er verdient dennoch eine, denn der Schreiber ist ein höherer, einflußreicher Beamter im deutschen Strafvollzug und ist heute noch in der Lage, Unheil anzurichten.


Heindl will mit seinem Buch dartun, dass Verbrecher, die keinesfalls mehr zu bessern seien (Gewohnheitsverbrecher oder Berufsverbrecher) in lebenslängliche Sicherungsverwahrung genommen werden müßten, um die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Das betrifft die §§ 55 ff. des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, insbesondere den § 59:

»Wird jemand, der schon einmal zum Tode oder zum Zuchthaus verurteilt war, nach § 78 als ein für die öffentliche Sicherheit gefährlicher Gewohnheitsverbrecher zu einer Strafe verurteilt, so kann das Gericht daneben auf Sicherheitsverwahrung erkennen.«

Der § 60 fügt hinzu: »Die Unterbringung dauert so lange, als es ihr Zweck erfordert« – und nach Absatz 4 des § 60 besteht die Möglichkeit, die Sicherheitsverwahrung in einem Arbeitshaus auf Lebenszeit auszudehnen. Die dem neuen Gesetz beigegebene ›Begründung‹ ist keine: ihr Text wiederholt im großen ganzen nur die vorgeschlagenen Gesetzesbestimmungen und tritt sie in kümmerlicher Weise breit; einen Grund für diese fast unglaublich erscheinende Maßnahme zum Beispiel wird nicht gegeben. Für eine solche lebenslängliche Verwahrung nun tritt Heindl ein.

Der Mann ist viel gereist: er kennt den französischen Strafvollzug in Neu-Kaledonien, den in der Südsee; den englischen Strafvollzug auf den Andamanen; den australischen Strafvollzug und den in Kanada. Von diesen Reisen berichtet er zunächst.

Wer – wie wir – unter schwierigen Umständen so oft für Frankreich eingetreten ist, nimmt sich das Recht, zu sagen, dass Frankreich mit einem wirklichen Kulturmakel behaftet ist: mit der Deportation seiner Sträflinge in eine tropische Kolonie. Heindl hat sich die Beobachtung drüben leicht gemacht. Er hat sich von den französischen Beamten offizielle Angaben machen lassen, hat das Material der Verwaltungsbehörden erbeten und erhalten …

»Angaben von Sträflingen und unzufriedenen freien Einwanderern, kurz jeden für mich unkontrollierbaren Bagnoklatsch habe ich unberücksichtigt gelassen.«

Schon aus diesem Satz spricht die maßlose Überheblichkeit des typischen Beamten, für den die ausländischen Berufskollegen Orakel, die unmittelbar Betroffenen aber sämtlich unglaubwürdig sind und bleiben. Die Mühe – wie etwa Albert Londres –, den ›Bagnoklatsch‹ nun wirklich an Hand der Wirklichkeit zu prüfen, diese Mühe hat sich Heindl nicht gemacht.

Das französische Gesetz sieht für schwere Zuchthausstrafen Deportation vor. Wer bis zu acht Jahren Strafe zudiktiert bekommen hat, muß dieselbe Zeit, die er abgesessen hat, noch einmal als ›freier Mann‹ in der Kolonie verbringen – wer über acht Jahre hat, darf überhaupt nicht wieder nach Europa zurück. Von der fürchterlichen Korruption, die nach einstimmiger Aussage aller freien und gefangenen Beobachter dort herrscht, weiß Heindl nichts zu vermelden – ein Beamter stiehlt nicht.

Neu-Kaledonien hat als französische Strafkolonie aufgehört zu existieren; seit der Journalist Jacques Dhur vom ›Journal‹ das Land bereist hat und mit einer honigsüßen Schilderung und dem Aufschrei zurückgekommen ist: »Viel zu schön für die Herren Gefangenen!« schickt man die zu ›traveaux forcés‹ Verurteilten nur noch in das schreckliche Guayana, wo sich die Sträflinge für drei Francs einen tuberkulösen Auswurf kaufen können, um mit dem in die Sprechstunde des Arztes angerückt zu kommen …

Die Heindlsche Schilderung des Kolonie-Elends geht von der Idee völliger Rechtlosigkeit der Strafgefangenen aus. An keiner Stelle – an keiner einzigen – ist ein Wort der Kritik der fremden Behörden zu finden; auch da nicht, wo deren Roheiten offen zugegeben werden, wo diese Roheiten jedes denkbare Maß übersteigen. Einmal zum Beispiel nahm in Neu-Kaledonien die dort stets grassierende Selbstverstümmelungs-Epidemie durch Massensuggestion tolle Formen an. Ein Sträfling fing an. Er stach sich die Augen mit einem Dorn aus.

»Eine Woche darauf ahmten ihm vier Kameraden nach. Dann kam etwas anderes; es wurde Mode, sich einen Fuß oder eine Hand abzuschneiden, sich einen Arm aus den Gelenken zu lösen usw. Es war schrecklich! Das ganze Camp drohte eine Gesellschaft von Krüppeln zu werden. Man mußte reagieren.«

Wie wurde das gemacht?

»Das Camp war zu jener Zeit, von der ich spreche, von einem energischen Mann, M. V … befehligt. Er machte nicht viele Umstände; für die Blinden ließ er eine Art Zirkus errichten und nötigte sie, dort täglich acht Stunden mit einem Sandsack auf dem Rücken im Kreis herumzutrotten. Die Einarmigen wurden vor Karren gespannt, und ähnliches für die andern erdacht. Dank dieser Therapeutik neuen Genres nahm die Epidemie rasch wieder ab.« Prügelstrafe. Denn wenn es etwas gibt, was hassenswerter und niedriger wäre als dies hier beschriebene infame Verbrechen, so ist es die lässig-saloppe Schilderung durch einen deutschen Beamten, dem die Tropen nicht gut bekommen sind. Ich bekenne, in der gesamten kriminalistischen Literatur noch niemals auf eine solch infernalische Roheit gestoßen zu sein. Und das in einem Lande, in dem immerhin Leute wie Bonhoeffer sorgfältige und durchdachte Theorien über das Wesen von ›Simulanten‹ aufgestellt haben.

Heindl bekommt Gelegenheit, an der Holzwand eines Lagerhauses zuzuhören, was sich die Strafgefangenen, die nachts allein gelassen werden, erzählen.

»Ich werde mich hüten, die schrecklichen Gespräche wiederzugeben, die ich dem rätselhaften ›Argot‹ entnehmen konnte, das dort geredet wurde. Man kann sie mit zwei Worten charakterisieren: Bestialität, Sadismus.«

Wessen –?

»Von Zeit zu Zeit, wenn eine Pause eingetreten war, ließ eine schwache Stimme, die Stimme eines Greises, Betrachtungen fallen, die einen ganzen Traum von Blut und Unflätigkeit zusammenfaßten.«

Das ist das, was ein Strafvollzugsbeamter über die unendliche schwierige und leidvolle Frage der Gefangenen-Sexualität zu sagen hat. Er gibt dann wohl zu, dass diese Lager von päderastischen Tragödien geschüttelt werden – außer ein paar Witzen, die nachts gegen drei auf einer Kneipe brüllendes Gelächter wecken würden, hat er dazu nichts zu vermelden.

Was vor allem an diesen Schilderungen durch den Geheimen Rat auffällt, ist eine Schnoddrigkeit des Tons, die nicht mehr Roheit zu nennen ist. Es ist Unmenschlichkeit schlechtweg. Die Gefangenen werden häufig ›Gentlemen‹ und – hochkomisch! – ›Herren‹ genannt, als ob, Mensch halt dir feste! solche Kerle ›Herren‹ sein könnten. ›Herr‹ ist man von Gehaltsstufe IX aufwärts, allenfalls. Ob man aber Mann ist, das ist eine andre Frage.

Die Sträflinge in Neu-Kaledonien konnten, nach gewisser Zeit der Strafverbüßung und unter gewissen Kautelen, weibliche Strafgefangene heiraten. Die Schilderung dieser Vorgänge durch Heindl ist ein einziges dreckiges Grinsen:

»Der Kiosk hat zwei Eingänge, einer führt ins Weiberdepot, der andre ins Freie. Der Heiratskandidat tritt durch diesen ein, während die lieblich errötende Braut durch die andre Pforte vorgeführt wird.«

Es fällt mir gar nicht ein, vor einem französischen Sträfling niederzuknien, und ihm unter »O Bruder Mensch!« – Geschrei die Füße zu küssen, und ich begreife sehr gut, dass man die Vorgänge im Bagno kalt ansehen kann (man sieht dann nämlich mehr). Wie man aber an wehrlosen, niedergedrückten, verkommenen Menschen seinen ohnmächtigen Witz üben kann – das freilich zu verstehen maße ich mir nicht an.

Die Bilder der weiblichen Gefangenen sind reproduziert. Sie sehen häßlich aus, verwüstet, lange nicht so schön, wie man das von ihnen verlangen kann. Bildunterschrift:

»Der Damenflor, aus dem die neukaledonischen Bräute sich rekrutieren.«

Der Herr Vortragende Rat irrt. ›Damenflor‹ ist eine Gattung, die nur auf offiziellen Gesellschaften von Ministerialdirektoren vorkommt, aber der Unterschied zwischen der Schwägerin eines Ministerialrats und zwischen einer ›môme‹ aus Belleville ist viel kleiner als dieses Polizeigehirn ahnt. Hohn? Hohn auf Zerstoßene?

Aber wem Roheit Herzensbedürfnis ist, der freut sich auch noch an der Mißhandlung gefaßter Verbrecher, und mit welcher Freude ist das hier geschildert:

»Er wechselte Geld, griff im ›psychologischen Moment‹ durchs Schalterfenster nach einem Bündel hochwertiger Banknoten und rannte damit davon. Er hatte allerdings den stämmigen Portier Alois Kreuzpointer aus Klais bei Partenkirchen, 1,87 m groß, Handschuhnummer 9, bei der Kalkulation seines Verbrechens nicht in Rechnung gestellt. Dieser sonst etwas phlegmatische Türhüter hielt den Flüchtling am Hauptportal der Bank an und bat ihn zu sich in die Portierloge, und ich erinnere mich heute noch, wie der Bankräuber bei der polizeilichen Vernehmung unaufhörlich: ›my head – my head‹ wimmerte und sich seinen verbeulten Schädel abtastete.«

Hähä. Wie da klobige Rachsucht, Freude am niedrigsten Oberbayern, Bourgeoisgier am Besitz und frisch-fröhliche Kriegssehnsüchte durcheinanderlaufen, das macht einen doch aufhorchen: warum sitzt so einer drüben und nicht hüben? Weil er sich legitimiert austoben kann.

Denn so, wie sich, nach einem tiefen Wort Roda Rodas, der Psychiater von seinem Patienten nur durch die Vorbildung unterscheidet, so gibt es in allen Ländern einen Polizistentypus, den man den ›invertierten Verbrecher‹ nennen darf: er hat genau dieselben Anlagen wie jener, dieselbe haltlose Freude am Abenteuer, die Gleichgültigkeit gegen den Mitmenschen, wenn ein Zweck erreicht werden soll, und das alles noch verschärft durch jenen sonderbaren, in sämtlichen Ämtern der Welt gedeihenden Sadismus, dessen größenwahnsinniger und feiger Träger sich hinter die anonyme Kollektivität des Staates verkriecht. Da ist er sicher; aus diesem Hinterhalt ist gut schießen. Und er schießt.

Ein bayerischer Gefangener fertigt im Stumpfsinn seiner Haft Schmalzlerglaseln aus geknetetem Brot an. Fotografie. Überschrift:

»Die Vergeltungs- und Rechtsstrafe als Förderin der schönen Künste.«

Das ist so der Humor kleinerer Burschenschaften.

Das Buch, das in vielen Einzelheiten erstaunlich schludrig gearbeitet ist, enthält außerdem falsche Angaben, und zwar solche einer bestimmten Tendenz.

Von dem Komplicen Haarmanns, Grans, anzugeben:

»Beruf: Händler mit von Ermordeten abgelegten Kleidern … «

sagt nur über die Beschaffenheit eines Polizeigehirns etwas aus. Erstens stimmt es nicht, denn von den zwanzig Jacken hat der Junge natürlich niemals leben können, und zweitens ist die Formulierung kindisch. Was aber Haarmann selbst angeht, so fehlt in der moralischen Bildunterschrift, die mit den Worten schließt: »Zu arbeiten hat er nie versucht«, eine winzige Kleinigkeit. Zu arbeiten hat er nie versucht? O doch, Haarmann hat schon gearbeitet. »Haarmann war der Polizei als Päderast bekannt?« Er war ihr noch als ganz etwas andres bekannt – nämlich als ihr eigner Spitzel, und durch diese Tätigkeit, die er unter Herrn Noske ausübte, gelang es ihm, sein Leben wesentlich einfacher zu gestalten … »Herr Kriminal!« nannte ihn die ganze Straße. Es verschwanden, sagt Heindl, Dutzende von Menschen, ohne dass eine Untersuchung angestellt wurde, »ohne dass überhaupt ein Mordverdacht geäußert und eine Anzeige erstattet wurde«. Das ist eine blanke Unwahrheit. Man lese das ausgezeichnete Buch Theodor Lessings über den Fall Haarmann: wie da die armen Eltern auf die Polizei kamen, das Verschwinden ihres Jungen meldeten, angeschnauzt wurden – wie jeder Verdacht gegen den Herrn Kriminal im Keime erstickt wurde … Das braucht Robert Heindl, der sorgfältige Forscher, nicht zu wissen. Wahrscheinlich ist es Bagnoklatsch.

Heindl bekommt es ja allerdings auch fertig, den schrecklichen Fall des Massenmörders Denke auf das Konto ›Gewinnsucht‹ zu buchen, ein offenbarer Wahnwitz, den kein Gendarmerieunteroffizier in die Akten zu schreiben wagte. Der Mann war ein Oger, ein Raubtier, eine entartete Spezies Mensch – die meisten Kleidungsstücke seiner Opfer fanden sich bei der Entdeckung vor. Das braucht Herrn Heindl nicht zu kümmern.

Genug.

Dieser Beamte ist nach solcher Leistung als für seinen Beruf ungeeignet anzusprechen, ein schlechter Schriftsteller dazu – aber was will er mit diesem dicken Buch? Geld verdienen? Sein gutes Recht. Er will aber noch etwas, und das ist ein schweres Unrecht. Das wollen wir in acht Tagen sehen.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 31.07.1928, Nr. 31, S. 167.



II

»On devient criminel, mais on est magistrat.«

Hier ist von dem Verfasser des ›Berufsverbrechers‹ gehandelt worden, Robert Heindl, einem Mann, der das von Hans Groß begründete ›Archiv für Kriminologie‹ heute noch herausgeben darf. (Wenn Heindl übrigens wissen will, was es so alles auf der Welt gibt, dann hat er das gleich bei der Hand: er erkundige sich einmal nach dem Schicksal des Sohnes von Groß.) Ich habe gezeigt, mit welcher Unverantwortlichkeit Heindl Schilderungen fremden Strafvollzugs vorgenommen hat, und es ist immerhin zu fragen, wer eigentlich einem so ungeeigneten Beamten diese sehr teuern Reisen bezahlt hat. Der Staat? Der ist doch sonst so knickrig und überlegt sich mit viermaliger Rückfrage beim Oberrechnungshof dreimal, ob dem Unterzollsekretär eine zweite Dienstgardine zu bewilligen statthaft wäre … Wenn schon jemand auf Reisen geschickt werden soll: so einer nicht. Denn er hats nicht verdient. Also was will er mit seinem Buch?

Er will beweisen, dass Gewohnheitsverbrecher lebenslänglich in ›Sicherheitsverwahrung‹ genommen werden müßten. Wie tut er das dar–?


Er behauptet zunächst, dass alle Besserungssysteme der Franzosen in ihren Strafkolonien zu keinem Resultat geführt hätten. Obgleich sämtliche Angaben Heindls mit äußerster Skepsis aufzunehmen sind und dokumentarischen Wert nicht beanspruchen dürfen, weil er sich zum Komplicen jeder regierenden Clique hergibt, so kann man diese Behauptung wohl akzeptieren. Er fühlt selbst, wie schwach sie – selbst nach seinen Schilderungen – ist; er fragt aber keinen Augenblick, woher diese kläglichen Resultate wohl stammen könnten.

Sich in Neu-Kaledonien zu ›bessern‹, muß nicht leicht gewesen sein. Nicht einmal das Land selbst war gebessert; Heindl gibt zu, dass nur ein Achtel oder ein Zehntel der verfügbaren Bodenfläche ausgenutzt wurde; also nicht einmal der Boden wurde rationell bewirtschaftet, obgleich doch die Arbeitskräfte nichts kosteten!

Was die Strafgefangenen angeht, so schaffte es weder die Einzelhaft noch die Kollektivhaft – von Besserung war nichts zu spüren. Aber Heindl hat kein Wort der Kritik für den Strafvollzug übrig. »Nur ein Prozent der neukaledonischen transportés besserte sich«, obgleich man ihnen viele Vergünstigungen gewährt hatte – zum Schluß bestand ihre Strafe eigentlich nur in dem Verbot, das Land zu verlassen, was dort, wo der Gefangene den Acker bewirtschaften konnte, noch angeht –, während der »entlassene« Gefangene in Guayana, wo es nichts zu verdienen gibt, unweigerlich wieder Straftaten begehen oder verkommen muß. Das alles aber ist – nach Heindl – lediglich Schuld oder Folge der Gefangenenveranlagung, nicht etwa eines unvollkommenen, eines kulturwidrigen oder unzweckmäßigen Strafvollzuges. Der Gefangene ist schuld. Was also soll bei uns geschehen? Dieses:

»Langfristige Strafen brauchen nicht auf pädagogische Zwecke eingestellt zu sein, da sie den Besserungszweck doch nie erreichen werden. Ich will damit keineswegs sagen, dass die Pädagogik nicht in den Dienst der Kriminalpolitik gestellt werden soll. Im Gegenteil, ich komme immer mehr zu der Ansicht, dass der wichtigste Faktor der Verbrechensprävention ein pädagogischer ist: die Kindererziehung, und zwar die religiöse Kindererziehung und nicht der blutleere Moralunterricht. Die kirchliche Lehre von der Höllenstrafe und dem allwissenden Gott, dem Kind eindringlich beigebracht, kann mehr Verbrechen verhüten als alle andern Präventionsfaktoren zusammen.«

Aber nicht immer. Heindl zum Beispiel muß nur einen blutleeren Moralunterricht genossen haben, wenn man die Seelenroheit, die aus seinem Buch spricht, in Betracht zieht. Mit welchen Mitteln aber ein Mann, der der Vater des Reichskriminalgesetzes zu sein sich rühmt, arbeiten will, das glaubt man nicht, wenn man es nicht läse. Denn was muß dem Volke erhalten werden? Die Religion und solche Beamte.

Nun, und die kurze Haft?

»Wer nicht erwiesenermaßen bereits zu den Gewohnheitsverbrechern gehört, ist mit tunlichst kurzfristigen Strafen zu bedenken, die aber ausnahmslos in Einzelhaft zu bestehen haben und so vindikativ als irgend möglich zu gestalten sind. (Man braucht nicht gleich an Tortur und Auspeitschen zu denken – «

das ist nun wieder ein weicher Zug an unserm Helden –

»könnte aber der kurzfristigen Strafe durch schmale Kost, belehrende Vorträge und eine Reihe andrer Unannehmlichkeiten Nachdruck verleihen.)«

Daß, nach diesen Proben, belehrende Vorträge zu den Unannehmlichkeiten zu zählen wären –: wer wollte daran zweifeln! Also: Vergeltungstheorie.

Die Besserungsutopie aber hält jener selbst für eine Utopie, die Vergeltungstheorie für eine sicherheitsgefährliche Metaphysik und nur die Schutztheorie eine den praktischen Bedürfnissen entsprechende Lösung des Strafrechtsproblems.

Nun ergibt sich – immer nach seinen Zählungen – für Deutschland, bei einer, wie er so schön sagt, »strafmündigen Bevölkerung« eine Gesamtzahl von 4227 Berufsverbrechern. Sollen die alle eingesperrt werden? Nein, er schlägt nur etwa tausend Mann zur dauernden Sicherheitsverwahrung vor; diese Leute hält er für unverbesserlich; jede Arbeit an ihnen sei verlorene Mühe, verlorenes Geld, verlorene Zeit – und diese tausend müßten dauernd »verwahrt« bleiben. Der Schaden, den diese Leute anrichteten, sei um ein Vielfaches größer als die Summe, die ihre dauernde Verwahrung dem Staat kostete. Der Vorschlag ist nicht neu.

Heindl bezieht sich dabei auf die Habitual Criminal Acts verschiedener amerikanischer Staaten; auf den § 65 des norwegischen Strafgesetzbuches von 1902 und auf die ausgezeichneten Erfahrungen, die Neusüdwales mit solchem Verfahren gemacht habe: die Kriminalität sei dort sichtbarlich und sofort nach Erlaß des Gesetzes im Jahre 1905 heruntergegangen. Nun hat zwar Herr Heindl nicht, wie er behauptet, »nachgewiesen«, dass die »Besserung der Gewohnheitsverbrecher unmöglich sei« – er hat gar nichts nachgewiesen, sondern nur vage Behauptungen aufgestellt, und mit schnoddrigen faulen Witzen und schludrigen Aufsätzen kann man überhaupt nichts nachweisen. Dazu ist die Sache denn doch zu ernst.

Gäbe es eine Möglichkeit, der ungeheuren Gefahr des Mißbrauches eines solchen Paragraphen durch die politisch unzuverlässige deutsche Justiz vorzubeugen, so erscheint er zum mindesten diskutierbar. Es wäre sehr wohl denkbar, dass Männer, die tatsächlich immer wieder in das Verbrechen zurückfallen, mit der erforderlichen Ausstattung ein größeres Gebiet Ödlandes, von dem Deutschland so viel Quadratkilometer hat wie der Bundesstaat Oldenburg groß ist, zugewiesen bekommen, und dass sie dort wirtschaften und leben können, es aber nicht verlassen dürfen. Mit Humanitätsduselei kann man kein Strafrecht machen. Nur ist die Sicherung gegen einen politischen Mißbrauch nicht gegeben, und wenn auch Heindl anständigerweise Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates nicht unter solche gerechnet, die die »Gewohnheitsverbrecher« begehen, so ist hundert gegen eins zu wetten, dass der nächste Max Hölz eben doch unter dieses Gesetz fallen wird: kann man ihm anders nicht beikommen, so wird man eben gegen ihn ewige Sicherheitsverwahrung verhängen. Der Vorschlag scheint mir also praktisch bedeutungslos. Nicht aber das Buch Heindls, das ein Symptom darstellt.

Es ist ein Symptom für die ungeheuerliche, nicht wieder gut zu machende Schuld der Novembermänner in der Personalpolitik und für das, was in Deutschland heute noch an maßgeblichen Stellen möglich ist. Von der kriminalistischen Tätigkeit des Verfassers, deren er sich rühmt, will ich noch gar nicht einmal sprechen. Es finden sich da sonderbare Dinge …

Eine Bilderfolge heißt ›Das gezeichnete Geständnis‹. Es ist eine Leiche im Walde aufgefunden worden, Heindl ließ drei Polen verhaften, die er im Verdacht hatte; alle drei wurden lediglich auf Indizien hin wegen Mordes zum Tode verurteilt, zwei wurden hingerichtet, der dritte zählte noch nicht achtzehn Jahre.

»Die beiden ältern starben, ohne ein Geständnis abzulegen. Es wird mir unvergeßlich bleiben, wie der eine noch auf dem Schafott seine Unschuld beteuerte.«

Der Dritte fertigte in der Haft Zeichnungen an, und unter diesen Zeichnungen finden sich auch Mordszenen. Aus diesen Bildchen nun folgert der Kriminalist Heindl, dass der Mann der Mörder sei. Denn:

»Man vergleiche die Szenerie mit dem von meinem Beamten hergestellten Tatortbild. Nicht nur die allgemeine Situation des Tatorts, sondern sogar Einzelheiten, wie der Baumstumpf im Vordergrund kehren in dem Erinnerungsbild des Mörders wieder, das er Jahre nach der Tat zeichnete. Den Stapel gefällter Baumstämme, der auf der Zeichnung rechts im Hintergrund steht, kann ich mich nicht erinnern, am Tatort gesehen zu haben. Vermutlich passierten die Mörder, auf den geeigneten Moment lauernd, im nächtlichen Waldesdunkel hinter dem Opfer hermarschierend, so einen Baumstapel. Mit der Tat steht er sicherlich irgendwie in Zusammenhang. Vielleicht machten sich die Mörder schußbereit, als sie an ihm vorbeikamen … Auch auf diesem Bild, das unten links nochmals den Hergang der Tat schildert, kehrt der Baumstumpf wieder. Daneben ein Busch. Man vergleiche damit das polizeiliche Tatortbild. Auch auf diesem steht neben dem Baumstumpf ein Busch.«

Also: auf willkürliche, völlig subjektive Annahme hin wird diese Bilderfolge fälschlich als ›Geständnis‹ ausgegeben, was sie nachweislich nicht ist. Ich hoffe für die deutsche Justiz und für den Seelenfrieden des Herrn Heindl – wenn es so etwas gibt –, dass die Indizien, auf Grund deren die beiden Polen hingerichtet worden sind, auf stärkern Füßen gestanden haben als dieser klägliche Versuch einer verstaubten Psychologie.


Das Buch ›Der Berufsverbrecher‹ ist eine Kostprobe jener Pflanze, die auf Deutschland sitzt wie der Meltau. Wer spricht hier –?

Es spricht ein in Klischees denkender, überheblicher Beamter, dem jede, aber auch jede Aktivlegitimation fehlt, über andre zu richten. Warum grade er? Weil er seine Fleißaufgaben während der Examina gut gemacht hat? Weil er den technischen Dienst gut versehen hat? Weil er einer Kaste angehört, die ihn vor der Möglichkeit schützt, Vergehen gegen das Eigentum auszuführen? Der ist nicht legitimiert, der nicht.

Was hier spricht, ist der politisierende Militär. Der Fall liegt völlig analog: auch hier einer, der den ›Rummel kennt‹, dem der Bürokrat nichts erzählen darf, der ›Mann der Praxis‹, der die Sicherungen für sein Volk ausbaut – und der in den parlamentarischen Budgetkommissionen nur Hindernisse für ›seinen Laden‹ sieht. Ein Vollstreckungsorgan, das auch nicht einen Augenblick über die Rolle des Staates nachdenkt, dem auch nicht einen Augenblick Zweifel kommen, ob die »Zuchthäusler« ihr Schicksal verdienen. Ich habe einmal in einem deutschen Zuchthaus einen vierundvierzigjährigen Bauern gesehn, der saß da wegen Meineids, dieses von den Richtern erfundenen Verbrechens. Der Mann hatte – angeblich – einen Meineid geschworen, als es um seinen Grund und Boden ging. Man male sich das aus, und man überlege, welcher Bauer da nicht falsch geschworen hätte … Soweit denkt aber der da nicht.

Der Untersuchende selbst entzieht sich jeder Kritik. Ein Beamter steht eben immer über der Materie, und dies ist seine ganz selbstverständlich vorgebrachte Ansicht: vergeht sich jemand gegen das Gesetz, so verfällt er ihm. Und damit wird er rechtlos. Man muß nur lesen, mit welch verächtlicher Miene so etwas von dem »Rechtsempfinden des Volkes« spricht, mit vier Anführungsstrichen; von der tiefen Verbeugung, die deutsche Gesetzentwürfe vor der öffentlichen Meinung machten, als ob die überhaupt mitzureden hätte, wenn von der Schaffung eines Rechtes die Rede ist! Recht –: das ist eine Sache für Fachleute.


Und hier ist der Fluch unsrer Verwaltung und des deutschen öffentlichen Lebens überhaupt: die maßlose Überschätzung des Fachmanns. Natürlich soll man richterliche Fachleute hören, denn sie kennen ihre Pappenheimer. Aber es darf doch niemals vergessen werden, dass fast alle Besserungen und Reformen in Gesetz und Strafvollzug den Richtern und den Gefängnisfachleuten von außen her abgerungen worden sind; dass fast alle Rufe nach Menschenwürde von ihnen zunächst nicht gehört worden sind, dass manches, was langsam besser geworden ist, fast immer gegen jene durchgesetzt worden ist.

Es gibt besserungsfähige Verbrecher, aber es gibt unverbesserliche Geheimräte.

Die wissen – wie der Typus Heindl – vom sozialen Faktor in der Strafrechtspflege fast überhaupt nichts; diese ungeheuerliche Ignoranz allein sollte schon genügen, diesen Mann abzusägen und schleunigst in Pension gehen zu lassen. Fast alle diese Fachleute aber sind in ihrem Apparat befangen, empfinden das Unrecht nicht mehr, sondern achten nur auf seine formal-unanfechtbare Durchführung, als ob Verordnungen, Bestimmungen und Reglements ihre Taten deshalb weniger verbrecherisch erscheinen ließen! Der Fachmann sieht den Betrieb nur von innen, also am Ende genau so unvollkommen wie der, der ihn nur von außen sieht. Weder der pathetische Tränensack noch der ausgepichte Aktenmensch sind geeignet, eine so unendlich schwierige Sache wie den modernen Strafvollzug zu leiten. Sieht man allerdings, wie zur Zeit im Reichstag ein Strafgesetz zustande kommt, das aller Voraussicht nach für die nächsten achtzig oder hundert Jahre Geltung haben wird, wie ja überhaupt alle unsre Gesetze, einer falschen »Rechtssicherheit« wegen, viel zu selten revidiert werden, so kann man nur jeden bedauern, der diesen Leuten in die Hände fällt.

Welche Forderungen aber auch immer erhoben werden müssen –: ein Mann wie Robert Heindl belastet den deutschen Strafvollzug und ist und bleibt ein hoffentlich von einsichtigeren Fachleuten bald außer Kurs zu setzender Schädling der Kriminalistik.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 07.08.1928, Nr. 32, S. 197.