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Hégésippe Simon

Das war zu Beginn des Jahrhunderts, da hatte ein französischer Journalist eine herrliche Schnapsidee. Er richtete an alle damals bekannten französischen Senatoren, Abgeordneten, Minister und sonstigen Politiker einen feurigen Brief: es gelte, sich zur Jahrhundertfeier des Geburtstages von Hégésippe Simon zu rüsten, des bekannten Freiheitskämpfers aus den achtundvierziger Jahren. Er bäte um eine kleine Meinungsäußerung der Herren: die Freiheit, die Kultur, die Brüderlichkeit, die gemeinsame Idee …

Sie antworteten, fast alle Mann hoch – und es knatterte nur so von herrlichen Phrasen, Briefen, Zusagen und Proklamationen.

Nun hatte die Sache einen Haken. Es gab wohl einen Hégésippe Moreau, und es gab auch einen Jules Simon – aber einen Hegesippe Simon hat es nie gegeben. Und als der Journalist seinen Waschkorb voller Briefe hatte, da veröffentlichte er sie, und die Gesichter der Politiker zogen sich ebenso in die Länge wie die Gesichter der fröhlichen Leser in die Breite … es war ein wunderschönes Fest.

Das ist nun rund fünfundzwanzig Jahre her … glaubt man, dass sich viel geändert hat? Mit nichten. In Frankreich und in Deutschland wird ein bißchen viel gefeiert und geredet, und es sind sehr oft die am wenigsten Legitimierten, die sich äußern. Als neulich einmal eine deutsche Literatur-Zeitschrift eine Rundfrage über Stefan George veranstaltete, da hatten doch etliche den Mut, auf die Frage »Was hat Ihnen George für Ihre Entwicklung bedeutet?« zu antworten: »Nichts.« Es scheint sehr viel Mut dazu zu gehören, einmal zu sagen: »Ich bin nicht der liebe Gott. Also kann ich mich nicht um alles kümmern. Dieses Gebiet ist nicht das meine – ich habe nichts dazu zu vermelden.«

Mir ist ein ehrlicher Beamter, der uns nichts vormacht, tausendmal lieber als der stets schmusbereite »Mann der Öffentlichkeit«, der zu allem seine Banalität parat auf Lager hält zu Goethe und zu Stefan George; zu Einstein und zu Edison; zu allen Geburtstagen und zu allen Beethoven-Feiern und zum ewigen Hégésippe Simon.

Denn wenn sie ehrlich sind, wenn sie wirklich ehrlich sind –: was bedeutet Ihnen in den meisten Fällen der Gefeierte, zu dem sie ihre Reden halten? Hekuba ist er ihnen, der Hégésippe Simon, und ein Schmarrn.

Peter Panter
Tempo, 17.10.1928.