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Deutschenspiegel

Da hat die Action Française dem Mitglied des Instituts, Herrn Charles Benoist, ein Diner gegeben, weil er sich nun ganz und gar zu den ihren gesellt hat: nämlich durch das Buch ›Les Lois de la Politique Française‹ (erschienen bei Arthème Fayard, 18/20 rue du Saint-Gotthard, Paris XIV).

Man darf solche Bücher nicht überschätzen. Die französische Politik wird, trotz allen Geschreis, in der Provinz geboren und nicht in Paris, wo sie nur gemacht wird, so daß, wie Thibaudet einmal so hübsch gesagt hat, das Feuer der Intellektuellen nicht mehr nahe am Holzstoß der Politik liegt – Feuer breitet sich nicht aus … Immerhin hat die Action Française einen weitgehenden geistigen Einfluß auf die französische Jugend, die in der Routine des Parlamentarismus und den fabrikmäßig hergestellten, den Geschäften vorgeklebten Emotionen der Parlamentarier nicht auf ihre Kosten kommt. Bis diese Jugend selbst ins Parlament eingeht, spielt sie höchst geistvolle Spiele oder sieht, wie der Adel und viele jüngere Intellektuelle, müde zu, wie die Kaufleute Weltgeschichte machen. Doch ist auch in Frankreich zu beachten, dass es, wie bei uns, jene aus den Pantinen gekippte Kriegsgeneration gibt, aus der wohl niemals viel werden wird – und dass danach die heute sehr Jungen kommen, die wieder unbefangen, frisch und nicht mit so grauenhafter Unwissenheit wie der ihnen vorangehende Jahrgang ans Werk gehen. Denen gehört die Zukunft.

Ja, also Benoist. Es ist ein typisch französisches Buch: von oben bis unten lesbar, brillant dokumentiert, aber ganz und gar anders, als die Deutschen so etwas anfassen – wer einmal versucht hat, auf der Bibliothèque Nationale in Paris zu arbeiten, wird vor Staunen von einem unzureichenden Katalog in den andern gefallen sein … es ist eben ein Unterschied in der Methodik, den man nicht zu kritisieren, sondern als gegeben hinzunehmen hat. Benoist also zeigt die innern Gesetze des französischen Volkes auf, sozusagen seine ihm angeborenen Spielregeln; er kommt dabei zu einer völligen Verurteilung der Parlamente, ohne sich allerdings sehr klar über deren Ersatz auszulassen; das lese nach, wens freut. Da ist aber – auf Seite 111 – eine Stelle, wo der Deutsche beschrieben wird, und das ist für uns nicht unwichtig, weil diese zwei Seiten deutlich zeigen, wie wir sind, wie wir nicht sind, wie richtig und wie falsch sich eine Nation in der andern spiegelt.

Liest man die Sätze, die hier folgen sollen, so ist anzumerken, dass die Neigung des Franzosen, alles auf eine klare Formel zurückzuführen, häufig zu Vergewaltigungen des Stoffes führt: vor nichts schreckt der französische Geist so sehr zurück wie vor dem kleinen x, das wir gern noch offen lassen, jenes x, in dem das Geheimnis der Natur zittert, und über dessen endgültige Aufklärung niemand so sterbensunglücklich wäre wie der Deutsche. ›Mysticisme‹ ist eine Art französisches Schimpfwort.

Man glaube ja nicht, die Franzosen ständen erschreckt vor so viel deutschem Gebirge, auf dem der völkische Groschenmystiker sich gern klettern sieht, mit der Seele jodelnd. Die Franzosen finden sich nur deshalb nicht in der Gegend zurecht, weil sie für solches Terrain keine Karten besitzen, und ihre tiefe Unsicherheit, verbunden mit der Angst vor denen, die zahlreicher sind, sieht Truggespenster im raschelnddunkeln Wald. Diese Furcht basiert auf keiner Achtung, sie kann nur gelegentlich Haß gebären. Hören wir Charles Benoist.


»Der typische Deutsche – Auflage: fünfundsechzig Millionen Exemplare – ist ein Automat und ein Herdenmensch, der jede Überlegenheit respektiert, die aus Geburt, Amt und Geld herrührt; er ist diszipliniert, noch wenn er Revolutionen macht; hartnäckiger als irgend ein andres lebendes Wesen besteht er auf seinem Sein und auf seiner Art, zu sein. Keine Kraft hat jemals vermocht, ihn umzuformen, und es wird ihn auch zweifellos keine jemals umformen. In geistiger Beziehung ist er selbst gegen die wunderbarsten Strahlen lichtundurchlässig. Geistig geht er heute von seiner Universität, wie er einst aus seinen Wäldern getreten ist. Hier liegt der Hauptunterschied zwischen seiner ›Kultur‹ und der Zivilisation. Es wäre absurd, die Hochwertigkeit der deutschen Wissenschaft zu bestreiten, und niemand ist ja so töricht chauvinistisch, sie abzulehnen. Aber diese Hochwertigkeit ist instruktiver Natur, sie ist nicht erzieherisch. Sie bildet die Fähigkeiten des Gehirns nicht; brach läßt sie Seele und Herz liegen. Sie saugt alle Energien des Verstandes auf, sie vernachlässigt alle Reserven der Sittlichkeit. Unter dem Vorwand, das Volk oder die Gesellschaft zu organisieren, ›mechanisiert‹ sie den Menschen. Sie macht ihn nicht humaner – so vollendet diese Kultur auch sein mag, so ruft sie doch bei denen, die ihrer teilhaftig werden, kein Plus an ›humanité‹ hervor.

Von der sogenannten deutschen ›Demokratie‹ dürfen wir keinerlei Wunder an Umwandlung der deutschen Seele erwarten. Wenn der Deutsche auch die Staatsform wechselt: er braucht Herrschaft. Er braucht stets einen Vorgesetzten, einen Führer, Haupt, Vorbild, Unteroffizier und Lehrer. Von Natur aus mit der Gabe der Nachahmung bedacht, ist seine Verehrung das Geständnis einer Verlegenheit: wer soll ihn führen? Denn wenn er nicht geführt wird, fällt er um, gibt sich selbst auf, bricht zusammen. Sein Gehirn ist wie ein Magen konstruiert: eine gradezu gefräßige Gutgläubigkeit nimmt alles auf. Man versteht nicht, sagte Mirabeau im Jahre 1785, was die Zeitungen eigentlich für dieses Volk bedeuten. Seine Wahrheit ist von eigenartiger Beschaffenheit: er bekommt sie, blind, taub und gefühllos, von der rechtmäßig eingesetzten Obrigkeit geliefert und nimmt sie an; diese Wahrheit ist spezifisch deutsch, deutsch wie seine Rechtlichkeit, seine Aufrichtigkeit, seine Treue. Seine Regierung verstände ihn gar nicht zu täuschen und will es auch nicht, denn es ist eine deutsche Regierung, die zu Deutschen deutsch spricht. In diesem kindlichen Glauben, der niemals dem untreu wird, was von Leuten in Amt und Würden geoffenbart wird, ist zugleich etwas Rührendes und Komisches, im Endeffekt aber etwas Erschreckendes. Denn wohin können diese unbestimmte Suggerierfähigkeit, diese Aufnahmefähigkeit ohne inneres Kontrollorgan ein fruchtbares Volk nicht führen, eng auf einem Boden zusammengedrängt, der nicht viel hergibt, durch Jahrhunderte mit der Waffe in der Hand zu Völkerwanderungen trainiert, systematisch abgerichtet und wissenschaftlich für den Krieg ›mechanisiert‹?

So ist der Deutsche; so ist das Deutschland von heute wie das aller Zeiten, das von gestern und das von morgen: das ewige Deutschland. Man ist allzu leicht geneigt zu sagen, es sei die überscharfe Arbeit, die Verheerung durch das Übel Preußen in der deutschen Seele. Der Deutsche ist immer so gewesen, lange bevor es ein Preußen überhaupt gegeben hat; es ist so gewesen von den ersten Tagen Deutschlands an. Nach fünfzehn Jahrhunderten Preußen schrieben die Latiner, gleich, nachdem sie mit den germanischen Stämmen in Berührung gekommen waren: Germanos ad praedam instigantes, und: Natum mendacio genus. Seitdem hat man immer dasselbe geschrieben; bei den Franzosen Froissart, bei den Italienern Petrarca; der ganze Westen versichert es. Weil der Deutsche von Epoche zu Epoche derselbe geblieben ist, so hallt von Jahrhundert zu Jahrhundert ein einziger Schrei im Westen gegen den furor teutonicus, und morgen wie gestern ertönt dieselbe Warnung: ›Der deutsche Strom ist so mächtig, dass ein großer Damm nötig ist, ihn zu bändigen.‹«


Dies Bild ist unvollständig, falsch, richtig, eine brillante Exegese unsrer Geschichte und streckenweise so schön verzeichnet, weil die französische Perspektive zugrunde gelegt ist.

Da ist zunächst – gleich zu Anfang – die kleine Bemerkung einzuschalten, dass es »so törichte Chauvinisten« wohl gegeben hat, die den Fachwert der deutschen Wissenschaft geleugnet haben. Herr Benoist täte gut, sich einmal im Kreise seiner Kollegen umzusehen: das beschämende Schauspiel, das die Universitätsprofessoren aller Länder, also auch Frankreichs, zu Beginn des Krieges geboten haben, jene in vierzehn Tagen blitzschnelle Umkehr, mit der sie aus den Kollegsälen in die geduckten, bezahlten und reklamierten Redaktionstrupps hinüberkippten, der vollendete Wahnsinn, mit dem die eine Nation der andern das Recht auf Licht, Luft, Sonne und Zeugung abschnitt – weiß Herr Benoist das nicht mehr? Dann soll ers nachlesen; weder sein Institut, noch die Académie Française haben davon eine Ausnahme gebildet. Die Ausnahmen saßen in der Schweiz und wurden von den strammen Patrioten Landesverräter genannt, weil sie das Land Europa für wichtiger hielten als die Provinzen der Vaterländer.

Abgesehen davon:

In dem Bild sind wir – und gleichzeitig alle französischen Irrtümer über das deutsche Wesen, jedoch auch jene Wahrheiten, die nur ein Fremder erkennen kann. Es ist außerordentlich bezeichnend, dass das Wort ›Bundesstaaten‹ in diesem Essay überhaupt nicht vorkommt, und wenn auch die gesunden Bestrebungen, mit ihnen aufzuräumen, von Erfolg gekrönt sein werden: die Kultur der Länder gegenüber einer höchst jungen, höchst grünen Reichskultur ist nicht zu leugnen. ›Der Deutsche‹ – ja, gibt es ihn denn, ›den‹ Deutschen?

Sicherlich gibt es ihn. Alles, was da über die Überdisziplin, das Herdengefühl, die Serienware steht, ist richtig – aber es ist sehr unvollständig. Es fehlt zum Beispiel jene merkwürdige Scheu des unsichern deutschen Privatmannes vor der Öffentlichkeit – ich habe einmal einen Abgeordneten, der im Reichstag ein hohes Amt ausübte, mit Muttern in einer Theaterloge sitzen sehen: wie er ständig zwischen seiner Kleinbürgerlichkeit, einer Gesangvereinsvorsitzendenwürde und dem Publikum hin- und herkippelte … sehr sicher war das nicht. Sie haben Angst, und daher werden sie frech – sicher fühlen sie sich nur in den zu nichts verpflichtenden Gefilden ihrer Philosophie, ihrer Musik und ihrer Bücher.

Bei Benoist findet sich noch jener lächerliche Vorkriegsaberglaube, dass Preußen der böse Feind sei, wenn auch gemildert durch eine Hypothese, die jene als preußisch verschrienen Eigenschaften der ganzen Nation zuspricht, ohne den Unterschied zwischen einem Fischer auf der Kurischen Nehrung und einem bayerischen Hopfenbauern auch nur zu ahnen. Die haben freilich etwas Gemeinsames: aber sieht das so aus, wie es hier geschildert wird?

Da ist ferner jene Annahme, die Regierung der Deutschen betrüge ihre Leute nicht – wer wäre wohl mehr betrogen worden als die Deutschen zur Zeit der Inflation? Bei wenig erdkundigen Leuten steht der Fremde stets im Geruch, zusammen mit seinen Machthabern wundervolle Verschwörungen gegen die andern Nationen auszuhecken, während in Wahrheit auch er ein geschäftetreibender, ausgebeuteter oder ausbeutender Mann ist, dessen Regierung ihre Hauptstütze in seiner Gleichgültigkeit findet.

Ein wirklich guter Satz ist da. »Der Deutsche kommt von seinen Universitäten, wie er einst aus seinen Wäldern getreten ist.« Radiographie und Präzisionsmaschinen und chemische Fabriken und Anilin und Diesel-Motoren – aber für den Franzosen haftet dem Deutschen etwas von einer ›brute‹ an – einem unbehauenen Stamm. Das wird nirgends deutlicher, als wenn man die frisch-fromm-fröhlichen Deutschen in Unterhaltung mit gebildeten Franzosen sieht – mir steigt jedesmal die Schamrote in die Stirn. Sie sind, einmal durch die französische Höflichkeit aus ihrer Unsicherheit herausgelockt, so unbekümmert! so sicher! so völlig in ihrem Element – sie stecken nachher die Zigarre zwischen die Zähne und erzählen zu Hause, im Ministerium: »Ich habe mit den Leuten gesprochen – ich weiß gar nicht, was Sie wollen –? Das sind doch sehr umgängliche Menschen! Ist ja alles in schönster Ordnung!« Sie hören nicht, und sie sehen nicht; sie sehen nicht diese unmerklich leisen Blicke der Frauen, die blitzschnell an der deutschen Besucherin heruntergleiten – sie wissen nicht, dass »vous croyez?« das Äußerste an gesellschaftlich möglichem Widerspruch darstellt –: Gott segne unsre Unterhändler, die Deutschland im Ausland vertreten. Sie vertreten es richtig.

Dabei ist auf der französischen Seite so viel guter Wille vorhanden! Ich sage das trotz vieler bitterer Stunden, die ich hier durchlebt habe – die Franzosen machen es einem nicht leicht, sie zu lieben. Daß eine von den echten französischen Liberalen gesuchte Erkenntnis deutschen Wesens, wie in diesem Fall, nur zu halbem Erfolg führt, liegt an dem zentripetalen Wesen des Franzosen, der, soweit er heute vierzig und fünfzig Jahre alt ist und damit die maßgebenden Politiker abgibt, nicht gereist ist, also große innere Schwierigkeiten zu überwinden hat, sich für ein fremdes Land überhaupt zu interessieren. Ich glaube, dass die Jungen damit aufräumen werden: sie stellen einen neuen Franzosen dar, dessen Arbeit wir im guten Sinne zu spüren bekommen werden. Aber um den Deutschen zu verstehen, ist schon für einen Deutschen viel Einfühlung nötig – um wieviel mehr für einen Franzosen!

Ich habe diese Stelle aus dem Buche von Benoist wiedergegeben, weil sie des Nachdenkens wert ist. Und weil das fade ›rapprochement‹, das heute in allen Salons getragen wird, nicht halb so viel Nutzen stiften wird wie es Aufwand erfordert. Genf ist gut –: weil sich Stresemann und Briand überhaupt gesprochen haben, weil die Beziehungen nicht mehr auf die leicht mißverständlichen Diplomatenberichte beschränkt bleiben, und weil man leichter in einer mündlichen Unterhaltung Steine aus dem Wege räumen kann als in einem Brief, der noch nicht einmal direkt läuft. Genf wird überschätzt –: die Kluft zwischen diesen beiden Völkern ist sehr, sehr groß.

Sie ist zu überwinden. Aber um sie zu überwinden, muß man den Mut haben, ihre Existenz anzuerkennen. Es gibt keine Therapie ohne eine saubre Diagnose. Ich habe in den ersten Jahren meines französischen Aufenthalts geglaubt, dass sich diese beiden Völker ergänzen. Das ist theoretisch richtig, aber sie werden es niemals tun, weil sich Öl und Wasser eben nicht vermischen. Wahrscheinlich können wir nur sehr schwer zusammenarbeiten.

Aber das ist kein Grund, sich gegenseitig mit Kiefernschüssen zu beweisen, wer recht hat. Hier gibt es kein ›Recht‹ – hier kann es nur Aufhebung der absoluten Souveränität geben, liebevolles Versenken in das Wesen des andern und eine gesunde Selbstkritik.

Ignaz Wrobel
Die Weltbühne, 17.07.1928, Nr. 29, S. 93.