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Von der weiblichen Keuschheit

71.

Von der weiblichen Keuschheit. — Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung der vornehmen Frauen, ja vielleicht gibt es nichts Paradoxeres. Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen und die äußerste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge in die Seele zu geben. Alle „Ehre“ des Weibes steht im Grunde nur hier auf dem Spiele: was verziehe man ihnen sonst nicht! Aber hierin sollen sie unwissend bis in’s Herz hinein bleiben: — sie sollen weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken für dies ihr „Böses“ haben: ja das Wissen ist hier schon das Böse. Und nun! Wie mit einem grausigen Blitzschlage in die Wirklichkeit und das Wissen geschleudert werden, mit der Ehe — und zwar durch Den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten: Liebe und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pflicht, Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott und Tier und was Alles sonst noch! in Einem empfinden müssen! — Da hat man in der Tat sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der seines Gleichen sucht! Selbst die mitleidige Neugier des weisesten Menschenkenners reicht nicht aus, zu erraten, wie sich dieses und jenes Weib in diese Lösung des Rätsels und in dies Rätsel von Lösung zu finden weiß, und was für schauerliche, weithin greifende Verdachte sich dabei in der armen aus den Fugen geratenen Seele regen müssen, ja wie die letzte Philosophie und Skepsis des Weibes an diesem Punkte ihre Anker wirft! — Hinterher das selbe tiefe Schweigen wie vorher: und oft ein Schweigen vor sich selber, ein Augen-Zuschließen vor sich selber. — Die jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu erscheinen; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art Frechheit. — Die Frauen empfinden leicht ihre Männer als ein Fragezeichen ihrer Ehre und ihre Kinder als eine Apologie oder Busse, — sie bedürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. — Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein!