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Tugenden

Ein Verteidiger der Sprache könnte behaupten, daß ihre Macht gelegentlich auch das Gute fördere. Wie die Hypnose eingebildete Krankheiten heilt, d. h. also nicht die Krankheit, sondern die Einbildung. So können Worte durch ihre soziale Macht dem melancholischen Hang zur Schlechtigkeit entgegenwirken.

Für mein persönliches Sprachgefühl hat das Wort "Tugend" oder gar die Mehrzahl die "Tugenden" die Tendenz, eine archaistische Bedeutungsnüance zu bekommen, wie es die der altgewordenen Götternamen ist, wie die personifizierten Göttinnen der Abstraktionen Gerechtigkeit, Weisheit, Industrie u. s. w. auf uns wirken. Diese Empfindung läßt die Moral unversehrt; mit dieser Empfindung unterscheidet man nach wie vor gute und böse Menschen. Man sucht nur nach neuen Worten und muß doch zugestehen, daß die alten Namen der Tugenden in moralischer Eichtung wirksam sind, während doch die Worte als Erkenntnismittel unwirksam erscheinen. Es ist nur ein ganz leises Kichern, was der Geist der Sprache dabei wie aus der Ferne erklingen läßt.

Nehmen wir z. B. die Güte als den Typus menschlicher Tugend, so werden wir nur wenige Menschen entdecken, welche als Genies der Güte in diesem Sinne tugendhaft sind. Die meisten guten Menschen sind nur gut, weil der Begriff der Güte einmal besteht, und weil in ihnen eine Neigung wirkt, sich diese Bezeichnung "gut" wie einen Orden zu erwerben. Sie handeln gut, sie verzichten auf böse Handlungen und üben gute, weil sie gut heißen möchten. In praktischer Beziehung ist zwischen ihnen und natürlich guten Menschen nur ein geringer Unterschied. Lebten sie aber in einem Volke, welches den Begriff der Güte noch nicht ausgebildet hätte, so hätten sie nur wenig oder gar nicht den Antrieb, gut zu sein. Die Worte sind also in diesem Falle ein moralförderndes Motiv. Die sprachlosen Tiere kennen dieses Motiv noch nicht, sind darum auch nicht gut und nicht böse.

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