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Nutzen der Sprache

Wir werden jetzt die Frage nach dem Nutzen der Sprache schon besser verstehen. Der Wortlaut der Frage verrät, daß der Frager in der Sprache irgend ein übermenschliches Wesen sieht, eine unnahbare Gottheit, nach deren Gnade für den Menschen geforscht wird. Man würde schwerlich nach dem Nutzen der Eisenbahn in diesem Sinne fragen. Es ist selbstverständlich, daß eine so nützliche Erfindung nützlich ist. Über ihren Nutzen Phrasen zu dreschen, wäre die Aufgabe eines deutschen Aufsatzes. Höchstens die zahlenmäßige, volkswirtschaftliche Berechnung des Nutzens hätte einen wissenschaftlichen Sinn. So ist auch die Sprache nicht ein übermenschliches Wesen, welches nebenbei und zufällig Nutzen bringt; sie ist vielmehr wesentlich eine nützliche Erfindung. Der Nutzen ist eine Eigenschaft der Sprache, nicht ein Geschenk, das sie gewährt.

Wie es aber in der Geschichte der Erfindungen eigentlich keine Revolutionen gibt, sondern die großen Leistungen fast immer nur die Endglieder kleiner Veränderungen sind, so stecken in der menschlichen Sprache — und viel untrennbarer als bei anderen menschlichen Gebrauchsschöpfungen — in der gegenwärtigen Form die veralteten Formen. Niemals ist die Sprache einer Zeit vollkommen auf der Höhe dieser Zeit. Immer besteht die Anstrengung eines philosophischen Kopfes darin, sich teilweise von dem Netz der alten Kategorien zu befreien. Denn es ist das Eigentümliche bei diesem Netzwerk, daß der Fischer mit seinem eigenen Kopfe selbst ins Netz gerät. So ist die Sprache niemals so nützlich, wie sie sein könnte.

Ich werde an vielen Stellen darauf hinweisen, daß die Kategorien unserer Sprache nicht mehr mit unserer gegenwärtigen Welterkenntnis zusammenstimmen, daß wir z. B., was die Physik als Bewegungen zu erkennen geglaubt hat, nach wie vor in Adjektiven und in Verben unterscheiden. Das ist doch offenbar dieselbe Erscheinung, die der Darwinismus Rudiment nennt und die wir auch in den bekanntesten anderen Erfindungen beobachten können. Die Art, wie wir heizen, widerspricht gröblich unserer wissenschaftlichen Erkenntnis vom Verbrennungsprozeß. Die Einrichtung unserer Eisenbahnwagen mit ihren getrennten Coupés, mit ihren Größenverhältnissen und dergleichen erinnert deutlich daran, daß man vor zwei Generationen, als man die Eisenbahn erfand, nur den alten Postwagen auf eiserne Schienen setzte. Es ist derselbe Vorgang, wie wenn wir vom Aufgehen der Sonne sprechen. Wir können heute Speisesäle, Schlafzimmer, ganze Wohnräume auf Räder setzen und von New York bis nach San Francisco sausen lassen; wir können uns den relativen Stillstand der Sonne vorstellen, wie wir seit Beginn der Schifffahrt den Stillstand der Ufer gegen den offenbaren Augenschein wissen; aber die Vorzeit wirkt auf unser Leben wie auf unsere Sprache gespensterhaft nach, wir sitzen im engen Coupe und reden vom Sonnenaufgang.

So haben wir von der unendlichen Reihe der Vorfahren die Sprache mit all ihren Vorzügen und all ihren Fehlern geerbt. Je nachdem wir die eine oder die andere Seite der Sache betrachten, sind wir geneigt, uns als Schuldner oder Gläubiger der Vorzeit anzusehen, ihr zu danken oder uns über sie zu beklagen. Die überkommene Sprache, die der einzelne zu ändern außer stände ist, erscheint uns dann je nach unserem Gesichtspunkte nützlich oder schädlich; nützlich, wenn wir uns mit ihrer Hilfe in der mit der Sprache zugleich auf uns gekommenen Weltkenntnis orientieren wollen, schädlich, so oft uns die Sehnsucht erfüllt, über diese Orientierung hinaus zu einer objektiven Erkenntnis fortzuschreiten. So wird selbst der einfachste Begriff, der des persönlichen Nutzens, fließend und undeutlich. Wir erkennen hilflos, daß auch die Sprache in die rücksichtslose Welt der notwendigen Entwicklungen hinein gehört, und daß es vermessene Menschenschwäche ist, wenn wir den Maßstab des Nutzens auf diese Form der Entwicklung anlegen wollen. Die Frage nach dem Nutzen der Sprache wird töricht wie die Frage, ob der Tiger an sich gut oder böse sei. Er ist eben ein Tiger geworden.