Heiterkeit
Was sich nun von dieser Wolke wie ein Regenbogen abhebt, und zwar so, daß jeder Mensch der Mittelpunkt seines eigensten Regenbogens ist, das ist die Heiterkeit des Geistes, die von Sokrates bis Kant jeder große Kopf gelehrt hat. Nur daß es falsch war, sie lehren zu wollen, weil sie sich aus der Einsicht von selbst ergibt. Einsicht ist nämlich immer heiter, weil Einsicht, Kenntnis, Philosophie, Denken, oder wie man es nennen will, immer nur in Sprache besteht, Sprache aber nichts ist als Erinnerung, die Summe der Erinnerungen des Menschengeschlechts, weil Erinnerung heiter ist, selbst die Erinnerung an Trübstes.
Das klingt paradox, ist aber eine alltägliche Erfahrung. Nur das Leben tut weh, die Gegenwart. Die Einsicht selbst in dieses Weh muß aber die Form der Sprache annehmen, und so ist die Sprache die Befreiung vom Schmerz durch die Erinnerung. Und wir sehen schon hier die Sprache den Tränen verwandt.
Genau besehen ist auch die Einsicht in künftige Schmerzen als Einsicht ein Grund zur Heiterkeit; solange wir nämlich künftige Leiden uns denkend, das heißt in Worten, ausmalen, so lange tun wir es ja durch das Werkzeug der Erinnerung, so lange macht es keinen Unterschied, ob der Schmerz uns bevorsteht oder vergangen ist. Und Martern, die wir nicht kennen, können wir uns darum ohne jede Bewegung vorstellen; wie denn junge Leute in gewissen Jahren sich zum Vergnügen ausmalen, sie würden gepfählt, gerädert oder so. Es ist eben nicht Erfahrungserinnerung, sondern Bucherinnerung. Da ist der furchtbarste künftige Schmerz das reine Vergnügen.
Dem scheint entgegenzustehen, daß die Vorstellung künftiger Leiden (Furcht) quälen kann, ja daß sie tiefe physiologische Änderungen hervorruft. Es sind dann aber sicherlich wortlose Vorstellungen ausgelöst worden, die das Leben geradezu angreifen und darum gegenwärtige Leiden sind; so zittert das Tierchen in den Krallen des Habichts, trotzdem es sonst wenig an die Zukunft denkt. Der gewöhnliche Mensch "verliert das Bewußtsein", wenn ihm plötzlich der Henker, eine Waffe oder das Feuer droht; er verliert eben die Sprache, das heißt das Denken, er denkt die Zukunft nicht mehr, er fühlt sie als Gegenwart. Der sogenannte Philosoph nun, in seiner Virtuosität des Denkens, kann unter solchen Umständen weiter denken, das heißt die Zukunft als Zukunft mit Worten vorstellen; und sofort wird, was ein Schmerz schien, ein bloßer Lufthauch, das Leiden wird wie mit starker Hand aus der Gegenwart in die Zukunft zurückgeschoben, und Giordano Bruno besteigt lächelnd den Holzstoß, Sokrates erwartet den Tod unter freundlichem Geplauder.
So gewinnt schon hier die Sprache ihren Zauber als Kunstmittel, oder vielmehr die Kunst steigert sich zum äußersten, sie wird ein Zauber, der den höchsten Menschen in der bittersten Stunde sich selbst als Kunstwerk sehen läßt — der gräßlichste Schmerz wird nicht gefühlt, weil er gedacht wird.
Das ist die ruhige Heiterkeit der wenigen ganz Großen; die Sprache schuf ihnen diese Heiterkeit. Vor der bitteren Stunde war ihnen die Sprache ein böseres Lachen.