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Wortstämme

Ich habe vorhin denjenigen Teil des geformten Wortes, der nach unserem Sprachgefühl durch Ablösung der Bildungssilben isoliert wird, den Stoff des Wortes genannt. Es war ein vorläufiger Ausdruck, der an jener Stelle notwendig schien, weil doch nicht alles auf einmal gesagt werden kann. Jeder von uns kennt auch ohne Gelehrsamkeit eine große Zahl von solchen Wortteilen, welche oft einer sehr großen Gruppe von geformten Worten gemeinsam sind. Der einfachste Mann wird imstande sein, zu solchen Wortteilen, welche gewöhnlich Wortstämme heißen, aus dem Stegreif eine Menge abgeleiteter Worte zu finden, z. B. zu dem Stamme "lieb" die Worte Liebe, lieben, lieblich, Liebling, Geliebte, Liebhaber usw. Diese Tatsache lehrt nichts weiter, als dass unsere bis zur Gegenwart entwickelten Sprachen es bequem gefunden haben, mit einer verhältnismäßig geringen Zahl von Lautgruppen sich in der weit größeren Zahl von Weltbeziehungen zurechtzufinden. Die Bildungssilben, die an den Wortstamm herantreten, haben die Funktion, z. B. in unserem Falle bald die Tätigkeit des Liebens, bald das Objekt dieser Tätigkeit, bald das Subjekt, bald die Eigenschaften des geliebten Gegenstandes usw. usw. zu bezeichnen. Diese Einrichtung der Sprache ist so bequem, dass die Menschheit notwendig auf sie geraten mußte. Die Tatsache aber, dass es solche gemeinsame Wortstämme von ganzen Wortgruppen gibt, schwebt wohl sowohl den Gelehrten als den Schülern vor, wenn sie weiterhin von den Wurzeln der Sprache reden. Es ist ein bloßer Zufall, wenn die Wissenschaft für die eine Art von Silben die Bezeichnung Stamm, für die andere Art die Bezeichnung Wurzel gefunden hat. Es würde sich wahrscheinlich ganz hübsch lesen, wenn ich diese technischen Ausdrücke hier zur Unterlage oder zur Wurzel oder zum Stamm eines bilderreichen Exkurses machen wollte. Ich will mich aber darauf nicht einlassen und nur schärfer hinzusehen suchen, welche Art von Stämmen eigentlich mit dem Namen Wurzeln belegt worden sind. Denn das scheint mir sofort klar, dass "Stamm" der höhere Begriff sei, gewissermaßen der Stoff vor aller Form, der Stoff, aus dem sich dann die Krone mit ihren Zweigen reich entwickelt. Wir müssen aber bald das Bild vom Baume fallen lassen. Denn es ist offenbar, dass man unter Wortstämmen (z. B. in unseren modernen Sprachen) auch diejenigen Stämme versteht, die sich etymologisch gar wohl auf mittelalterliche oder antike oder orientalische Worte zurückführen lassen. Der Stamm ist also ein relativer Begriff, bei dem sich unser Sprachgefühl eben deshalb ganz wohl etwas denken kann. Die Sprachwissenschaft stellt sich nun vor, dass man den Stamm nur in die Tiefe zu verfolgen brauche und dann an einen Punkt gelange, wo der Organismus anfängt, wo die Wurzeln ein Ende haben. Danach wäre also Wurzel kein relativer Begriff mehr. Dort, wo die Welt mit Brettern verschlagen ist, da lassen sie die Sprachen mit Wurzeln anfangen. Sie wollen nichts ahnen von der endlosen Entwicklung bis zurück zum einfachsten Organ des Erkennens, sie wollen nichts ahnen davon, dass der "Organismus" der Sprache, wollte man ihn historisch erklären, zurückverfolgt werden müßte in das nächtliche Dunkel der Urzeit, dass immer und überall die Wortstämme, wie sie den redenden Menschen etwa erschienen, nur im Sprachgefühl jeder einzelnen Zeit lebten, in Wirklichkeit jedoch immer wieder Kronenteile älterer Stämme waren und so zurück ins Unabsehbare. Die Wurzeln des Denkens oder der Sprache lassen sich nicht ausgraben; die Wurzeln des Denkens oder der Sprache sind ein jämmerliches Bild, wenn man bei ihnen an die Wurzeln der Bäume denkt, denn die Wurzeln des Denkens oder der Sprache senken ihre unsichtbaren Fäden tiefer und tiefer hinüber in unausdenkbare Zeiten, in eine Dauer, die wir sonst Ewigkeit nennen. Die wurzelgläubige Sprachwissenschaft jedoch zittert vor der Ewigkeit wie ein Tier vor dem Tode.