Konstanz der Urteile
Die Schullogik verlangt von einem gesunden Urteil oder Satze, dass es oder er gewiß, unveränderlich sei, dass mein Selbstbewußtsein mich versichere, ich, der Herr Ich, werde niemals anders urteilen. Über den Hinweis auf die Identität meines Ich kommt die Logik nicht hinaus, und Sigwart setzt die Identität des Ich sogar "vor alle Notwendigkeit", wobei sich sein Ich wahrscheinlich etwas denkt.
Es gibt aber weder eine absolute Identität der Objekte, noch eine des Ichs. Ich war vielleicht vor zwanzig Jahren leichtsinnig und bin jetzt geizig. Ich war vielleicht ... Doch wozu das Bekannte wiederholen. Vor zwanzig Jahren war mir der Satz: "Ich spreche hier von Berlin mündlich mit meinem Bruder in Wien" — da war mir dieser Satz ein unmögliches Urteil. Jetzt ist er alltägliche Wahrheit. Es braucht sich aber nicht um so krasse Fälle zu handeln. Unaufhörlich wechseln die Objekte ihre Eigenschaften, unaufhörlich wechseln meine Begriffe ihren Umfang und damit leise fließend ihren Inhalt. Während ich den Satz ausspreche oder denke oder höre: "Metall ist schwer", fällt mir ein, dass unter "Metall" heute weit mehr Elemente verstanden werden als zu meiner Schulzeit, dass "schwer" ein relativer Begriff ist und dass einzelne Metalle leichter sind als Wasser, und wie mir das einfällt, zum erstenmal vielleicht ins Bewußtsein fällt, wird eben durch das Denken und im Denken dieses Satzes die Fülle meines Bewußtseins vergrößert, mein Ich verändert, und der den Satz zu Ende spricht, ist ein anderer, als der ihn angefangen.
Wer die unveränderliche Gültigkeit der Urteile für unser Denken strikte verlangt, der kann freilich nicht behaupten, dass er denke. Denn er muß ja zugeben, dass alle Gewißheit, und gerade die Dauer jedes Satzes am sprachlichen Ausdruck hafte. Unsere Worte aber sind in ihrem Sinne so wenig konstant, dass wir deutsche Schriften aus dem 15. Jahrhundert ohne Unterricht kaum mehr verstehen können. Bekannt ist, dass viele Worte sich in "verwandten" Sprachen, mitunter auch in einer und derselben Sprache in ihren Gegensinn verkehrt haben (kalt — caldo), was etwas Anderes ist als der "Gegensinn der Urworte". Selbst ein einzelner Mensch kann das Fließen der Wortbedeutungen bei Lebzeiten beobachten. Da ist so wenig Konstanz wie in den Objekten selbst, und wir können froh sein, wenn wir als schlechte Schützen so ungefähr die Sache treffen, wenn wir à-peu-pres irgendwo tappend mit den Fingerspitzen auf das Gesuchte stoßen. Ein konstantes Wort für einen konstanten Begriff gibt es so wenig wie eine mathematische Linie.
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