Analytische Urteile
Hier irrt Sigwart hart an der Wahrheit vorbei. Natürlich Wäre auch nach seiner Meinung alles analytisch für den, der der Sprache in idealer Weise mächtig wäre, das heißt der Zukunftsprache, die alles Wissen enthielte. Das ist ein wichtiges Zugeständnis. Aber der Lernende, der mit neuen Worten ihre Definitionen erhält, spricht die Sätze so lange papageienhaft nach, bis sie ihm verständlich, das heißt analytisch werden.
Nicht der Schüler, nur der seltene Meister vollzieht Synthesen. Sokrates war weise genug, das Lernen für ein bloßes Erinnern zu erklären.
In der besonnenen Sprache der Wissenschaft, wo der Satz sich gern ein Urteil nennt, liegt die Sache darum nicht ganz so verzweifelt wie bei den untertautologischen Sätzen des Alltags. Da richtet sich wohl die Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Merkmal, die übrige Definition wird unklar mitverstanden und so wird der Satz oder das Urteil doch wieder zur Tautologie, zu einer Tautologie unter besonderer Beleuchtung; das helle Licht fällt auf einen bestimmten Punkt, der um so deutlicher wird, je mehr der übrige Teil des Bildes im Dunkel verschwindet.
Wenn unser Hanswurst sich einen Käse hat geben lassen und nun seine Tischgesellschaft das Ereignis beschwatzt, so kann leicht der Satz ausgesprochen werden "der Käse ist durch" wie etwa der andere Satz "Sparsamkeit ist eine Tugend". Beidemal ist offenbar der Wert des Geredes unter Null. Es kann aber auch, wie gesagt, die Aufmerksamkeit auf das Prädikat gelenkt werden. Der müßige Professor kann gefragt werden, ob Sparsamkeit zu den Tugenden gehöre, ob sie für die menschliche Gesellschaft gut und bekömmlich sei; ebenso kann ein anderer Professor vor Gericht daraufhin befragt werden, ob es zum Begriff Käse gehöre, reif ("durch") zu sein, ob ein anderer als ein reifer Käse dem menschlichen Organismus gut und bekömmlich sei, ob andere als reife Ware den Namen Käse verdiene. Und da haben wir auch schon die psychologische Deutung des sprachlichen Vorgangs. Wenn die Sprache den Begriff Tugend in den Definitionsinhalt des Begriffs Sparsamkeit aufgenommen hat, so ist Sparsamkeit eine Tugend; oder noch dümmer ausgedrückt: Wenn wir Sparsamkeit immer oder gewöhnlich eine Tugend nennen, so wollen wir sie auch heute eine Tugend nennen. Und wenn es zum Begriff des Käses gehört, reif zu sein, Wenn der Sprachgebrauch den unreifen Käse einen Quark nennt, den reifen Quark aber erst einen Käse, so darf der Sachverständige vor Gericht das kategorische Urteil aussprechen "Käse ist reif" oder — wie er dann wohl sagen wird: "Es gehört das Reifsein zum Wesen des Käses." Was sonst zum vollständigen Begriff des Käses oder der Sparsamkeit gehöre, wird bei solchen mangelhaften Tautologien übersehen. Wir wissen aber jetzt, dass in allen solchen Sätzen, den erklärenden Sätzen oder Urteilen, das Denken über den Begriff nicht hinausgeht, sondern hinter ihm zurückbleibt.