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Apperzeption

Mit dem Begriffe Urteil bezeichnen wir also zwei Bewußtseinszustände, welche von Hause aus an die entgegengesetzten Enden der traditionellen Logik gehören würden; den Zustand nämlich, in welchem wir irgend eine Wahrnehmung machen, indem wir sie in unsere Apperzeptionsmasse aufnehmen, sie einem bereits vorhandenen Worte angliedern, und den zweiten Zustand, in welchem wir unsere Aufmerksamkeit auf das Wort und seine Entstehung richten und ein sogenanntes Urteil mit Subjekt und Prädikat aus dem Worte wieder herauswickeln. Der zweite Bewußtseinszustand ist der gewöhnliche bei unserem Sprechen und Denken; der erste Bewußtseinszustand ist derjenige, welcher die Individualsprache oder die Weltanschauung des Einzelnen wachsen läßt und welchen wir uns auch bei der Entstehung der Sprache gegenwärtig denken müssen. Man könnte auch die zweite Art von Urteilen Urteile aus Worten nennen, den ersten Bewußtseinszustand das Entstehen der Worte aus Urteilen. Bei diesem Entstehen der Worte aus Urteilen macht es nun einen wesentlichen Unterschied, ob die Entwicklung des Wortes aus der eigenen Tätigkeit kommt oder nicht, ob die Spracherweiterung autodidaktisch gelernt wird oder nicht. Der Autodidakt bildet sich wenigstens begriffliche Gespenster nach seinem eigenen Bilde; der Schüler nimmt die Gespenster des Lehrers an, was den Gespenstern auch noch den letzten Rest ihrer subjektiven Realität nimmt. Mach (Analyse der Empfindungen S. 150) hat sehr fein beobachtet, wie ein Kind gelegentlich die Federn des Vogels Haare nennt, die Hörner der Kuh Fühlhörner, die Bezeichnung Bartwisch sowohl für den Bartwisch selbst als für den Bart des Vaters und den wolligen Samen des Löwenzahns anwendet. Ebenso nennt der gemeine Mann ein Rechteck gewöhnlich nur ein Viereck. Mach fügt hinzu: „Die meisten Menschen verfahren mit den Worten ebenso, nur weniger auffallend, weil sie einen größeren Vorrat zur Verfügung haben." Nicht darum allein ist es uns weniger auffallend, sondern vielleicht auch weil Menschen von der gleichen Bildungsstufe den gleichen Wortvorrat zur Verfügung haben, weil einer an die Gespenster des anderen glaubt. Das Kind sieht zwischen dem Bart des Vaters und dem reifen Löwenzahn eine Ähnlichkeit; die höchst gebildeten Naturforscher sehen Ähnlichkeit zwischen den Körpern und deren kleinsten Teilen, die sie Atome nennen, und vielleicht ist bei solchem Wortaberglauben das Kind sich der Unwirklichkeit des Gespenstes besser bewußt als der Naturforscher.

Die erste Gruppe von Urteilen allein fällt unter den alten Begriff der Apperzeption.

In der französischen Sprache gehört das Wort der Umgangssprache an. Apercevoir heißt da im Gegensatze zu voir geradezu das oberflächliche, unvollständige, flüchtige, wirre Sehen. On aperçoit etwas, um es nachher zu betrachten oder wieder zu übersehen.

Die Apperzeption der Psychologen soll etwas Aktives sein, was den apperzipierten Gegenstand an sich reißt, während doch offenbar, wenn der Franzose aperçoit quelque chose, der Gegenstand aktiv in das Blickfeld des Beobachters tritt, der mehr passiv bleibt. Also wieder ein Wort, dessen Bedeutung schielend ist.

Noch größer wird die Konfusion durch die Definition, welche Steinthal (Abr. d. Sprachw. I. 171) von der Apperzeption gibt. Er erklärt sehr hübsch, dass bei der Apperzeption eines Dings (z. B. eines Pferdes), also bei der Anwendung eines Begriffs oder Worts auf ein Individuum dieses Begriffs, eine reiche Geistestätigkeit zu verfolgen wäre, dass der ganze bisherige Inhalt des Begriffs in Bewegung gesetzt wird und daß, was wir z. B. bisher vom Pferde wußten, beim Benennen des neuen Individuums relativ das Moment a priori sei, während der neue Sinnenreiz (der vom neuen Individuum ausgeht) das relative Moment a posteriori sei.

Nachdem Steinthal diesen fruchtbaren Einfall (der Relativität des a priori) rasch verlassen und vergessen hat, definiert er also die Apperzeption als die "Bewegung zweier Vorstellungsmassen gegeneinander zur Erzeugung einer Erkenntnis".

Da ist vor allem zu bemerken, dass keine der beiden Vorstellungsmassen den Anspruch erheben darf, auch nur relativ a priori zu heißen, wenn die Apperzeption etwas zwischen ihnen, wenn sie eine Bewegung ist. Ich bin nicht ängstlich. Ich scheue nicht vor den Konsequenzen des Gedankens zurück, dass Apperzeption nur eine Bewegung zwischen Vorstellungen oder Begriffen, dass sie also etwas Ähnliches sei wie Gravitation. Es ist mir sogar verführerisch, zwischen den großen anerkannten mechanischen Grundsätzen der sogenannten Materie und dem Hauptelement des Geisteslebens, eben der Apperzeption, ein Analogon zu finden. Nur ein Psychologe, der stets von der Seele (trotz einer anfänglichen Mentalreservation) wie von einem Etwas spricht und der der älteren Vorstellungsmasse die mystische Kraft des a priori verleiht, darf nicht auf derselben Seite das Wesen der Geistestätigkeit in eine unpersönliche, ichlose Bewegung auflösen wollen.

Und es geht auch nicht. Der Vergleich mit der Gravitation hinkt auf allen vier Füßen der Bestie, die Apperzeption genannt wird. Die Stoffe, die Spielzeug der Gravitation sind, sind. Sie existieren, ewig wie ihre Beziehungen aufeinander. Sie sind für uns.

Der Sinneseindruck aber, der durch die Lebensverwickelungen zufällig im Gehirn eines Einzelmenschen zu seinem bisherigen Vorrat an Eindrücken hinzutritt, der — wie man es nennt — apperzipiert wird, wird, entsteht erst durch das Leben. Es ist also wahr, dass ein a priori da ist, ein Zentrum, ein Ich, ein sogenanntes Bewußtsein, das heißt ein Individualgedächtnis, das nun aus einem Eindruck verstärkt wird. Es ist also die sogenannte Apperzeption nicht etwas zwischen den Vorstellungen, sondern doch wohl eine Aktion des Zentrums. Sie ist eher Nahrungsaufnahme als Gravitation. Und das liegt in dem Namen: Adperzeption.

Da nun aber anderseits diese Seite der Sache subjektiv, falsch, seelisch, eine Selbsttäuschung sein muß, wie jede psychologische Beobachtung, da also die sogenannte Apperzeption an sich gewiß eine Bewegung ist (nur nicht die von Vorstellungen)1, so bleibt nichts übrig, als den unhaltbaren Ausdruck Apperzeption endlich fallen zu lassen und die Entstehung der Begriffe oder Worte, also auch die der vorausgehenden Urteile, der "Vor "urteile, tiefer zu gründen als auf diesen Überrest einer kindlichen Geisteslehre, auf ein tönendes Wort, über dessen Bedeutung sich die Gelehrten nicht einigen können — wie es denn überhaupt rätlich wäre, in den Wissenschaften keine Begriffe anzuwenden, über deren Definition nicht alle Welt und alle Sprachen einig sind.

Ich könnte die Apperzeption definieren als: die Anwendung des persönlichen Wortschatzes auf ein sich der Wahrnehmung aufdrängendes Ding. Dabei wäre die aktive Seite der Wirklichkeitswelt (durch das "Aufdrängen") gewahrt und zugleich erklärt, warum der Kenner bei der Apperzeption so ungleich mehr erblickt als der Laie; denn es ist keine Frage, dass der Pferdekenner an einem vorbeigaloppierenden Pferde mehr Besonderheiten wahrnimmt als ein Laie nach wochenlangem Besitz; ähnlich der Rosenzüchter an einer Rose. Vor allem aber hätte meine Definition das Gute, dass sie auf die Bedeutung des Wortschatzes hinweist, der doch nichts weiter ist als die Sprachform der Vorstellungsmasse, zu welcher der neue Eindruck durch die Apperzeption hinzutritt. Auch der Unterschied zwischen Kennern und Laien ist eigentlich nur ein Sprachunterschied. Die genaue Kenntnis des Pferdes ist ohne eine Menge sportlicher Begriffe oder Worte nicht möglich und umgekehrt. Wer die Ausdrücke sinnlos gebraucht, um zu flunkern, zu dessen Sprache gehören sie eben noch nicht. Man erkennt den Sportsman, wie jeden Gewerbsmann, an seiner Sprache.

Trotz dieser Vorzüge fällt es mix nicht ein, meine Definition vorzuschlagen. Man soll eben lieber gar nicht definieren, wenn der Begriff nicht gemeinsam ist. Die Apperzeption aber ist, wenn meine Erklärung zutrifft, nichts weiter als ein hilfloser Ausdruck für das Nichtwissen: wie wächst die Sprache, der Sprachschatz eines einzelnen Menschen? Und da wir die mikroskopischen Vorgänge bei der Nahrungsaufnahme einer Pflanze nicht kennen, so könnten wir ebensogut das Ereignis, dass ein Molekül oder Atom sich mit einem Pflanzenindividuum verbindet, so könnten wir diese Form der Gravitation, diese Bewegung auch eine Apperzeption der Pflanze nennen.

Und so ist der ganze Fortschritt der Wissenschaften die Summe der sogenannten Apperzeptionen, das heißt das unscheinbare Wachsen des Sprachschatzes. Das Kind sagt eines Tages: "Aha, so ein Ding mit einer Platte und vier Beinen nennen sie einen Tisch, auch wenn die Platte rund ist, trotzdem ich bisher nur viereckige Tische gesehen habe." Ganz richtig; aber, um bei Steinthals Beispiel zu bleiben, die Wissenschaft macht es auch nicht anders, höchstens schlechter. Sie sagt: "Ich werde untersuchen, ob ein runder — Dingsda auch ein Tisch ist, ob er auch ein Tisch heißen darf." Darf? Hier liegt wieder einmal der wichtige Punkt, die Überschätzung der Sprache. Die Wissenschaft wird künftig fragen müssen, wie die Kinder fragen: ob das runde Ding auch ein Tisch noch heiße und warum. Das Dürfen muß aus der Sprache der Naturwissenschaft verschwinden wie das Sollen aus der Ästhetik und aus der Logik. Beide Hilfsworte sind Zuchthausjargon der Ethik. (Man vergleiche den Artikel Sollen in meinem "Wörterbuch der Philosophie" II, 412 ff.)

Die Psychologie unterschied früher zwischen Perzeption und Apperzeption, wie sie noch heute zwischen Bewußtsein und Selbstbewußtsein zu unterscheiden sucht. Da war Perzeption etwas, was ungefähr von den Sinnesorganen allein geleistet wurde, während zur Apperzeption die "Seele" nötig war. Alle neueren Bemühungen, die Perzeption als irgend eine unklarere Apperzeption zu erklären, sind selbst nur Unklarheiten. Perzeption ist ein Wort, das selbst abgestorben ist und vorläufig im Seitentrieb Apperzeption weiter wuchert.

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  1. Ich meine das so: solange man von Vorstellungen redet und psychologische Fachausdrücke gebraucht, solange ist es auch ein Ich, das apperzipiert; läßt man aber die Psychologie und das Ich beiseite, redet man physiologisch von Bewegung, so darf man nicht an Vorstellungen denken.