Zum Hauptinhalt springen

Zeit und Assoziation

Meine Gleichsetzung von Bewußtsein und Erinnerung oder Gedächtnis ist wahrscheinlich keine sachliche Erklärung des Widerspruches, aber sie vergewaltigt doch offenbar nicht die Sprache. Und so halte ich es für eine brauchbare Hypothese, daß allerdings immer nur eine Vorstellung an dem Nadelöhr unseres Bewußtseins vorüberzieht, weil ja in diesem Sinne immer nur das Gegenwärtigste, d. h. das im geistigen Magen eben sich Assimilierende, das eben augenblicklich dem Gehirn Arbeit machende, — daß das allein die Aufmerksamkeit fesselt (natürlich, weil ja auch die Gegenwart als Zeit nur die Nadelspitze zwischen Vergangenheit und Zukunft ist, die Wirklichkeitswelt also in jedem Augenblick nicht breiter sein kann, als die Fadendünne dieses Augenblickes, als ein Nadelöhr), daß aber zugleich das Gedächtnis, d. h. die unbewußte Registratur des Gehirns, wohl über unseren ganzen Wissensschatz verfügt, alles mit der Augenblicksvorstellung zunächst Verwandte schon in Bereitschaft hält, also daß das Gehirn in seinem Gedächtnis den weiten Horizont besitzt, der die Welt der Erfahrung oder die Vergangenheit und die Welt der Möglichkeiten oder die Zukunft umfaßt.

Um in meiner Darstellung von der gewohnten Sprache nicht allzu weit abzuweichen, habe ich bisher den ewigen Fehler der Psychologen wiederholt und von den Assoziationen der Vorstellungen so gesprochen, als ob sie wirklich in einer geraden Linie an der Pforte des Bewußtseins vorüberzögen. Steinthal (S. 142) glaubt das ganz ernsthaft; er sagt: "Wegen der Enge des Bewußtseins hat (die Assoziation) nur eine Form der Bewegung, die lineare Reihenform." Er verwechselt also einfach die Zeit mit ihrem Gehalt, den gegenwärtigen Augenblick mit seiner Vorstellung, das heißt mit dem, was den Geist gerade jetzt beschäftigt. Die Zeit ist es, die nur eine Form der Bewegung hat und zwar die lineare Reihenform, und darum können wir uns jeden Punkt dieser Zeit als das Teilchen einer Linie denken; denn die Zeit ist allerdings eine Dimension, eine der vier Dimensionen des Erlebten.

Die Assoziation aber greift nach allen Richtungen um sich. Wie der Schall sich nicht gleich einer Linie fortpflanzt (trotzdem wir es gern so aufzeichnen), auch nicht in der Fläche gleich den Wellen eines Wassertümpels (trotzdem dieser Vergleich sehr lehrreich ist), sondern in allen Radien einer Kugel, so auch die Assoziation, nur daß die Assoziation sich eben nicht an den drei Dimensionen genug sein läßt und noch die Zeit (und vielleicht noch als eine fünfte "Dimension", oder als Bewegung in einer neuen Dimension, die wir nicht als eine Bewegung in den drei Dimensionen des Raums verstehen können, die Wirklichkeit) zu ihrer Ausbreitung benutzt*).

Das Leben, die Wirklichkeitswelt, das Interesse ist es dann, was unter den assoziierten Vorstellungen die brauchbarste auswählt und sie (nicht linear, sondern kreuz und quer) vor das Nadelöhr des Bewußtseins schleppt, auf den Block der Erinnerung wirft, unter das Fallbeil des Wortes oder des Begriffes.

* * *