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"wissen"

Die Sprachkritik, welche die Frage untersuchen will, wie weit die menschliche Sprache ein taugliches Werkzeug des Erkennens oder des Wissens ist, bietet nämlich für die Erhellung ihrer skeptischen Ergebnisse vielleicht kaum ein besseres Beispiel als das deutsche Wort "wissen" selbst. Die Untersuchung dieses Wortes vermag uns von selbst zu Vorstellungen zu führen, die in allgemeinen und abstrakten Untersuchungen gar zu gewagt und freventlich erscheinen könnten. Sehen wir einmal, bis zu welcher Möglichkeit wir, von der gegenwärtigen Sprachwissenschaft geleitet, den Bedeutungswandel des Wortes "wissen" verfolgen können.

An die Spitze möchte ich die Bemerkung stellen, daß die allgemein angenommene Etymologie des Wortes in ihrer einfachen Gleichung (ich weiß = ich habe gesehen) den Ausgangspunkt aller neueren Erkenntnistheorie weit schärfer ausdrückt als selbst der berühmte Satz, es sei nichts im Verstande, was nicht vorher in den Sinnen gewesen ist. Die sogenannte Wurzel "vid" findet sich in der Bedeutung sehen, beobachten (finden?) im Sanskrit, im Griechischen, im Lateinischen und im Gotischen. Es ist hübsch, daß die Sprachwissenschaft ohne erkenntnistheoretische Nebengedanken, rein historisch, zu der Überzeugung gelangt ist, daß das deutsche Wort "weiß" ebenso wie die entsprechenden griechischen (oida), slavischen und Sanskritworte ein Perfektum des Begriffs "sehen" ist. Man weiß, was man gesehen hat. (Die entsprechende lateinische Gleichung novi-noscere ist doppelt interessant, weil noscere doch wohl griechisches Lehnwort ist, und weil im Griechischen Perfektum und Aorist "ich wußte", dieweil oida selbst Perfektum ist, von gignôschô geborgt werden müssen. Jedenfalls ist "wissen" auch im Lateinischen Perfektum: "ich habe kennen gelernt, habe bemerkt". Auch das französische savoir [sapere] bietet eine sehr lehrreiche Vergleichung.)

Auf etymologischem Wege kommen wir nicht weiter. Wohl hat man die alte Lautgruppe "vid" mit dem alten Adverbium di verglichen, welches im lateinischen "dis" (zwischen) erhalten ist, und dieses dis wieder mit dem alten Zahlenzeichen dvi (zwei), wohl hat man den Begriff des Beobachtens so als den Begriff des Unterscheidens "zwischen zweien" erklärt und sogar an das Hebräische erinnert, wo die Lautgruppe bin ebenso die Begriffe "zwischen" und "wissen" bezeichnet. Uns muß solche Etymologie, über historisch beglaubigte Tatsachen der Sprache hinaus, wie immer als ein gefährliches Spiel erscheinen, hier besonders deshalb, weil der sehr abstrakte Begriff des Unterscheiden oder Vergleichens nur gewaltsam in irgend einer Urzeit mit dem so viel konkreteren Begriff "sehen" verbunden werden kann. Eine wahrscheinlichere Vorstellung von dem alten Begriff "sehen" erlangen wir, wenn wir uns tapfer von allen Kategorien der gegenwärtigen Sprache emanzipieren und die Begriffe "sehen'' und "wissen" einmal ganz aus der Urzeit entwickeln.