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Doppel-Ich

Bei abstrakten Worten, wie Bewußtsein, Seele, Gedächtnis, Individuum, wenn sie eine Vergangenheit von Jahrhunderten oder von Jahrtausenden haben, glaubt jeder, sich was denken zu können, oder gar zu müssen; und die Kritik der Sprache hat die schwere und gewöhnlich unlösbare Aufgabe, dem Besitzer der schönen Worte zu beweisen, daß er an ihnen nichts besitze. Kommt aber ein solches Wort erst neu auf, wie das Doppel-Ich, so kommt der Kritiker wieder in den Verdacht, nicht einmal die kleine Beobachtung zu verstehen. auf Grund deren das neue Wort erfunden worden ist.

Das Doppel-Ich bedeutet den Gegensatz von Individuum, also ein Dividuum: einen Menschen mit zwei Köpfen, siamesische Zwillinge. Etwa der erwähnte dikephale Mensch Diderots. Und da man aus pathologischen Zuständen gern allgemeine Schlüsse zieht, so kommt man zum Ergebnis, daß jedes Individuum ein Dividuum sei, daß wir alle alternierendes Bewußtsein, zwei Köpfe u. s. w. hätten. Das frappanteste Beispiel, das jeder von uns an sich selbst erfahren hat und das freilich gar nicht nach Spukgeschichten aussieht, ist folgendes: Wer mit Unterbrechungen einen langen Roman liest, vergißt während des Lesens alles um sich her und lebt als Zuschauer jedesmal während des Lesens mit den Romanfiguren. Er verliert vorübergehend das Gedächtnis für alles andere und gewinnt, indem er das Buch am nächsten Tage wieder zur Hand nimmt, jedesmal ein Gedächtnis für die Welt des Romans. das ihn wiederum während seiner Tagesgeschäfte verlassen hat. Solange der Mensch aber nicht verrückt ist, wird er nach Beendigung des Romans mit diesem Nebengedächtnis Schicht machen, und sein gewöhnliches Bewußtsein wird nur noch mehr oder weniger Spuren der ganzen Lektüre zurückbehalten.

Der Begriff des Doppel-Ich ist gepfropft auf den Begriff des Ich. Habe ich nun recht mit meiner Anschauung, daß Selbstbewußtsein ein leerer Pleonasmus sei, daß Bewußtsein nichts weiter sei als Gedächtnis, und Gedächtnis wieder nichts weiter als die Empfindlichmachung abgeschwächter Gehirnreize durch starke, neue, insbesondere durch die gemeinsamen Wortzeichen der alten und der neuen Reize, habe ich recht mit der Anschauung, daß der Ichbegriff nichts weiter sei als das Gefühl des Gedächtnisses, daß dieses Ichgefühl also nichts Konstantes sei, sondern in jedem Augenblick ein anderes Gedächtnisgefühl und nur darum scheinbar zusammenhängend, weil ununterbrochen neue Gehirnreize entstehen, von denen fast jeder, oder vielleicht jeder Assoziationen des sogenannten Gedächtnisses weckt: habe ich recht mit der Anschauung, daß das Ich ein leeres Wort sei, so ist der Begriff Doppel-Ich leer in zweiter Potenz. Wenn gute Beobachter nun berichten, daß es Krankheitsfälle gebe, in denen das Gedächtnis für eine Gruppe von Assoziationen die Leitungsfäden mit den übrigen durch Zerreißung verloren habe, so will ich das gerne glauben. Es gibt auch Magenfisteln. Es gibt auch wandernde Nieren und andere Scheußlichkeiten in der Natur. Wer aber auf das leere Wort Doppel-Ich einen neuen Mystizismus aufbauen wollte, der wäre ein unklarer Kopf oder ein Betrüger, oder endlich ein betrogener Betrüger.

Denn darin liegt die größte Gefahr des Mystizismus, wie er sich jetzt besonders als Spiritismus breit macht, daß er mit einem blödsinnigen Wortfetisch da Antwort geben zu können glaubt, wo der ganz moderne Mensch an den Grenzen der hilflosen Wissenschaft neue Fragen stellt. Was wirklich gewußt wird, ist sprachlichen Ausdrucks fähig. An den Grenzen der Wissenschaft stehen stumme Fragen; mit Worten zu antworten, ist Pfaffengeschwätz. Wer seinen Glauben verloren hat und sich nicht anders zu helfen weiß, als daß er eine neue Religion annimmt, der hat die Götter und die Pfaffen gewechselt, ist aber nicht weiter gekommen; so wenig wie ein Denker, der in seiner Muttersprache nicht mehr weiter kann, dadurch hinüberdringt, daß er eine fremde Sprache lernt.

An anderer Stelle habe ich ausgeführt, daß nur der Wahnsinnige einen wirklich freien Willen habe, d. h. daß nur bei dem Wahnsinnigen der momentane Reiz stärker sei als das Bewußtsein oder das Ich oder die Erinnerung an die bösen Folgen von Handlungen, die auf ähnliche Reize folgten. Die Freiheit des Wahnsinnigen verträgt sich sehr gut damit, daß nur der Wahnsinnige ein doppeltes Ich besitzen könne.

Paul Lindaus Theaterstück "Der Andere" ist ein doppeltes Spiel ohne Ernst, ein Theaterspiel, mit dem Doppel-Ich.

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Die Möglichkeit des Telegraphierens von Zeichnungen, die Wirkung der Selenzelle auf die elektrische Energie, ließe ein neues Bild für die Gehirntätigkeit zu. Ein System unendlicher Bilderweckungen für alle Schwingungen der Seh-, Gehör- und übrigen Nerven konnte man annehmen. Spiegelungen auf elektrischem Wege. Und wie für den gewöhnlichen Spiegel nur existiert, was er momentan reflektiert, so besitzt das Gehirn — durch den Zufall der Sprache — nur, worüber es momentan reflektiert, richtiger, was es reflektiert.

Mit diesem Bilde, selbst wenn sich in den physiologischen Vorgängen der Gehirnganglien etwas Ähnliches finden sollte, wäre natürlich für die Erkenntnis ebensowenig gewonnen, wie mit den Bildern von der Sekretion der Gedanken. Denn die Frage nach dem Ich, welches in den hintersten Spiegel blickt wie der Beobachter in den Augenspiegel, wäre dadurch nur hinausgeschoben und nicht gelöst.

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