Lebenskunst
Lebenskunst ist, wie ich ZfdU. 19, 123 ff., ausführlich gezeigt habe, ein offenbar von Friedrich Schlegel geprägtes Schlagwort, der schon 1797 von „Lebenskunstsinn“ redet, dann aber im 1. Band des Athenäums 2, 147 ff. (1798) sofort den neuen Ausdruck aufs wirksamste in Kurs setzt. Es geschieht dies in dem enthusiastischen Aufsatz: Über Goethes Meister. Darin berichtet er S. 156 von den „ersten und notdürftigsten Anfangsgründen der Lebenskunst“ und S. 162 von dem „Stufengang der Lehrjahre der Lebenskunst“. Somit siehe der Kritiker S. 175 in jener „großen Lebenskunstlehre“ ein Werk, das nicht nur Theater oder Poesie, sondern „das große Schauspiel der Menschheit selbst und die Kunst aller Künste, die Kunst zu leben“ umfassen soll.
Diese Beziehung ist nicht zufällig. Goethe hat vielmehr durch seinen großartigen Bildungs- und Erziehungsroman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1796) zuerst eine packende Darstellung des Begriffes Lebenskunst gegeben und eben dadurch der Wortbildung so unmittelbar vorgearbeitet, dass sie nicht ausbleiben konnte. Die Inschrift: "Gedenke zu leben!", welche Wilhelm im Saale der Vergangenheit erblickt, darf man geradezu als Quintessenz des Romans wie überhaupt des ganzen Goetheschen Dichtens bezeichnen.
Bei genauerem Zusehen führt freilich die Geschichte dieses Schlagwortes ein gut Teil weiter zurück. Nach Schusters Angabe in s. Diss. über Friedr. v. Hagedorn (1882) S. 10 sprach Shaftesbury als erster den Gedanken nachdrücklich aus, dass auch das Leben eine Kunst und jeder infolgedessen der Künstler seines Lebens sei. Zwar betitelt schon Logau ein Epigramm Lebe-Kunst, aber er betont darin nur den Begriff des Lebens, nicht den der Kunst. Dagegen nimmt Wieland den Shaftesburyschen Gedanken auf und führt in einem „Philosophie — Kunst zu leben — Heilkunst der Seele“ betitelten Aussatze des Deutschen Merkurs 1778, 2. Vierteh. S. 20 ff. ans: „Die Menschen haben gelebt, und vielleicht Jahrtausende gelebt, eh einer von ihnen aus den Gedanken kam, dass Leben — eine Kunst sein könnte, und, nach aller Wahrscheinlichkeit, ist jede andere Kunst … Schon längst erfunden gewesen: als endlich die scharfsinnigen Griechen, mit andern schönen Wissenschaften und Künsten, auch diese berühmte Kunst zu leben, vulgo die Philosophie genannt, wo nicht gänzlich erfunden, doch zuerst in formam artis gebracht und aus den höchsten Grad der Verseinerung … getrieben haben.“ Diese philosophische Auffassung des Begriffs vertauscht er in seinem „Agathodämon“ (1799) mit der allgemeineren — Lebensgewandtheit. Und zwar erklärt er 23, 128: „In Allem diesem nie zu viel noch zu wenig zu tun und (wie ein morgenländischer Weiser sagte) immer die glatte Geschmeidigkeit der Schlange mit der harmlosen Einfalt der Taube zu verbinden, ist die große Kunst des Lebens.“
In dieser Fassung des Begriffs berührt sich Wieland mit der bündigen Forderung Friedrich Schlegels. Nur dass das Schlagwort des Romantikers sich nicht nur mit dem formellen Geschick der Lebensführung begnügt, sondern ebensosehr eine möglichst allseitige und künstlerische Ausbildung der Persönlichkeit fordert, wie es die Genußseite des Lebens betont. Es lohnt sich, die Nachwirkung des Schlagwortes Lebenskunst an einigen Zeugnissen des 19. Jahrhunderts noch zu verfolgen.
Zunächst eine lehrreiche Äußerung Herders 22, 313 (1800): „Dass .. der Mensch, zu würdigen Zwecken auf richtigen Wegen, in der Gestalt des Reizenden und Schönen nur das Wahre und Gute anstrebe, liebe und wähle, dass er durch sein Hindernis abgeschreckt, durch jede Schwierigkeit angefeuert werde, seine Idee immer reiner zu suchen, brünstiger zu verfolgen, ganz zu vollenden; dies ist die bildende Kunst des Lebens.“ Auch Novalis nimmt das inhaltsreiche Schlagwort aus. Er überschreibt damit 1, 223 ein Gedicht und bemerkt z. B. 3, 153: „Krankheiten, besonders langwierige, sind Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung.“ Und Schleiermacher, Vertr. Briefe (1835) S. 62 rühmt Schlegels Lucinde nach: „Dichtungen, die dies leisten, sind nicht nur an sich schön und wünschenswert, sondern sie tun uns auch Not, um durch ihr Beispiel den rechten Takt und Ton wiederherzustellen für dasjenige, was das zarteste und schönste ist in der Lebenskunst.“
Das von den Romantikern so geliebte Stichwort wird von den Dichtem des Jungen Deutschlands nicht verschmäht. Gutzkow, Die rote Mütze (1838) S. 93 findet diese „echte Lebenskunst“ gerade bei allen wahrhaft großen Männern bewährt, während Mundt, Gesch. der Lit. (1842) S. 335 speziell im Fürsten Pückler einen „in allen Verhältnissen und Formen gewiegten Lebensvirtuosen“ sieht. Dieselbe Ableitung gebraucht Gutzkow, Rückbl. (1875) S. 303: „Manche mürrische menschenfeindlich gestimmte Natur zieht der harmlose Lebensvirtuose in die Strömung seiner eigenen guten Laune herüber.“
Lebenskünstler findet sich bei Goltz, Typen der Gesellschaft 1, 4 (1860) und als moderner Buchtitel von Gabr. Reuter (1896). Vgl. Cl. Viebig, Dilettanten des Lebens (1898).
Überhaupt ist das Schlagwort mit der steigenden Wertschätzung Goethes in der letzten Zeit wieder lebhaft in Fluss gekommen. Dieser große Lebenskünstler gilt mit Recht als das Muster eines Menschen, der sich voll ausgelebt hat und dessen Lebensführung im eigentlichen Sinne eine Kunst genannt zu werden verdient, und zwar eine Kunst von hoher erzieherischer Bedeutung. Von diesem Gedanken geleitet, überschrieb Wilhelm Bode ein hübsches Schriftchen: Goethes Lebenskunst. Aber auch in allgemeinerer Auffassung spielt das Schlagwort im Leben und in der Literatur der Neuzeit eine große Rolle. Ich erinnere nur an Nietzsche 3, 333 und 9, 19, sowie an Bierbaum, Pankr. (1896) S. 214: „Lebenskunst — das ist’s. Wie für alle Künste, so ist auch für sie eine gewisse innerliche Naivität, ein gewisses Naturburschentum, das aber recht wohl kultiviert sein kann, die Voraussetzung. Man muss sich vor allem seiner Natur nicht schämen.“