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April 1917

Schweizer Idylle

Könnte man über das Grauen zur Tagesordnung übergehen, so kann man doch nicht über die Tagesordnung hinübergehen, nicht über die furchtbare Naivetät, mit der der Wahnwitz seine Kontraste aufrichtet, nachdem er an sich schon die äußersten Postulate an Menschenwürde und Nervenruhe gestellt hat. Das so erschwerte Da-Sein macht einem aber auch den Wunsch nach einem Wegsein unerfüllbar. Nun ist die Erschwerung oder Erleichterung von Reisen sicherlich keine Angelegenheit, die, noch so vernünftig geregelt, den Verlust an Menschheit und Menschentum aufwiegen würde, den uns jede heimatliche Stunde anschaulich macht, und noch so unvernünftig geregelt, könnte sie die Bitternis dieser Zeiten nicht mehr vermehren. Es mag schließlich sinnvoll sein, daß uns, die all ihr Mögen unter den Begriff des Vermögens gestellt haben, verboten werde, uns zu erholen, damit die Valuta sich erhole, die es ja nach unsern Taten noch immer nötiger hat als wir nach unsern Leiden. Es mag hingehn, daß die tadellosesten Privatmenschen, deren Herkunft und Lebensführung den Verdacht »kriegsverräterischer« Absicht ausschließt — wiewohl ich sehr geneigt bin, nach diesem Krieg sein Geheimnis den Schakalen in der Wüste zu verraten —, durch das endlose Spalier von »Agenten«, Paßrevisoren, Klauselauguren, Leibesuntersuchern und sonstigen in Grenzwirtshäusern beschäftigten Instanzen gehetzt werden, ehe man sie zu einem Butterbrot in der Schweiz gelangen läßt. Es mag hingehn, daß propagierendes Preßungeziefer mit Diplomatenpaß hin und herläuft; denn jedes Geschäft braucht einmal seine Reklame und anständige Leute, solche, die drei Wochen in »Kontumaz« sitzen — ein Fremdwort, in dem der Österreicher schwelgt —, geben sich ja nicht dazu her, den Neutralen, die dafür gar kein Gehör haben, zu versichern, daß der Wiener nicht untergeht. Es mag hingehn, daß man sich von dem Auftreten der Burgschauspieler in Zürich nicht nur einen Triumph über die Zürcher Ensembles, sondern auch einen politischen Umschwung verspricht und ihnen darum nicht nur die Fahrt, sondern auch das Ziel so bequem macht, daß ihnen die jetzt zeitraubende Umrechnung der Kronen- in die Schweizer Währung ganz erspart bleibt, indem einfach wir für sie die Spesen der dortigen Gastmähler zu bezahlen haben. Was aber nicht hingehen kann, ist die Schadenfreude, mit der die Heimgekehrten den Daheimgebliebenen erzählen, was es dort alles auf ihre Kosten zu fressen gab. Die journalistische Schamlosigkeit, die dem Herrn Treßler erlaubt, uns spaltenweise den Nachtisch zu servieren und an Tagen, wo das Blut in Katarakten strömt, sich zum Mittelpunkt der Betrachtung zu machen, gehört zu den undenkbaren und dennoch körperhaften Erlebnissen dieses allerschuftigsten Zeitalters. Herr Treßler ist ein durchschnittlicher Maskenschauspieler, der den Charakter bei der Nase nimmt, ein Chargenspieler von der Art, die auf den Provinzbühnen in einer dem Bühnengenius und allem echten Theaterwesen abholden Epoche noch immer massenhaft produziert wird. In der Menschendarstellung fürs Varieté — diese Könnerschaft läßt keinen Geschlechtsunterschied aufkommen — erreicht er allenfalls das Niveau der Frau Niese. Als äußerlicher, leerer, technisch beflissener Kopist aller Stile nimmt er auf der Bühne etwa den Rang ein, den der Herr Saiten in der Sprache innehat, und weil ihm die verschiedensten Nasen gleich gut sitzen, so ist eine ihrer Theaterkultur abtrünnige Stadt vielleicht berechtigt, ihn für den Nachfolger Mitterwurzers zu halten, genau so wie sie gewohnt ist, die Frau Niese einem Girardi »kongenial« zu finden. Da nun die Bevölkerung dieser Stadt in Dingen des Theaters zwar ihren Geschmack überwunden, aber ihr Interesse für die Privatangelegenheiten der Schauspieler gesteigert hat, so läßt sie sich, während ihre Angehörigen in Schützengräben liegen, gern und willig von Herrn Treßler erzählen, wie er sichs im Schlafwagen, Bett Nr. 10, auf der Fahrt nach Innsbruck bequem gemacht hat. Gleichwohl darf man nicht glauben, daß im Weltkrieg dem Herrn Treßler alles so gut ausgeht, wie man glauben möchte. Zuerst, ja, klappte alles famos und Herr Treßler, der sich in ein Buch von Marx Möller »vertieft« hatte, wollte schon den Eßkorb auspacken.

Aber große Enttäuschung harrte meiner, denn meine fürsorgliche Gattin hatte es übersehen, den Kartoffelsalat essig- und öldicht zu verschließen, und so schwamm die Mehlspeise mit dem Kalbsbraten im Essig umher. Das war eher peinlich, löste aber nicht das geringste Mitleid bei meinem Nachbar aus. Übrigens entwickelte er sich als ein sehr netter Coupégenosse, der nicht einmal schnarchte.

Daß es bei Treßlers noch Essig und Öl, Kalbsbraten und Mehlspeise gibt, ist das einzig Versöhnliche an der Sauce. Nun kommt der Liebling an die Grenze, und während dort die meisten Reisenden als Leute behandelt werden, die sich durch das’ Reisen verdächtig machen, gelang »sein Durchbruch bei Feldkirch glänzend«. In Sargans hat er gleich eine »herrliche Bratwurst« nebst einem Krügel »Bierli« zu sich genommen. In Zürich nimmt ihn »ein Mitglied des österreichisch-ungarischen Generalkonsulats in Empfang«. Wozu hätten wir denn sonst eine Vertretung in Zürich? Auf der Straße »empfing ihn ein Meer von Licht«. Jene aber, die Vertretung, war auch schon vor Ankunft des Herrn Treßler nicht faul gewesen.

Man hatte mir im Hotel Baur en Ville Quartier gemacht, bestehend in einem großen, luxuriös ausgestatteten Schlafzimmer mit raffiniertem Badezimmer und einem eleganten Empfangssalon.

Hier mag Herr Treßler selbst empfangen, nachdem er außer vom österreichischen Konsulat und einem Meer von Licht auch noch »von dem überaus liebenswürdigen Direktor Reuker empfangen« worden war.

Ich fühlte mich schon jetzt im Himmel, aber es war, wie sich herausstellte, nur der erste Himmel. Der siebente folgte nach. Ich hatte Mühe, ein herrliches Menu für vier Franken, das meiner harrte, zu erledigen. Am Schlüsse gab es Erdbeeren in Schlagobers. Ich aß immer Schlagsahne, früh, mittags und abends ...

Nun folgt Herrn Treßler zu Ehren »von dem bezaubernd liebenswürdigen Generalkonsul v. Maurig ein Souper zu zwanzig Gedecken im Hotel Baur au Lac« und an einem andern Tage noch eins, »und zwar hatte der österreichische Generalkonsul diesmal 130 Einladungen ergehen lassen«. (Der österreichische allein; der ungarische hat sich wohl aus Scheu vor parlamentarischen Kostenberechnungen zurückgehalten.) »Mein Berliner Kollege Moissi war auch, meiner Einladung folgend, erschienen.« Wobei irrelevant ist, ob die Kosten für die Ernährung von 130 Österreich zum Fressen gern habenden Persönlichkeiten vom Repräsentationsgeld des Generalkonsuls oder direkt aus der Staatskasse gedeckt werden. So oder so, bleibt es ein die nicht geladenen Angehörigen der österreichisch- ungarischen Monarchie angehender Kostenpunkt und ich bin nicht gesonnen, bei der nächsten Steuerfatierung speziell das Gedeck für Herrn Moissi im Ausgabenetat unerwähnt zu lassen. Wobei ich aber noch die Absicht habe, mich zu erkundigen, ob ich auch für die Reisespesen der dem Burgtheaterensemble für Reklamezwecke beigestellten Herren Saiten und Hofmannsthal aufzukommen habe. Von einer Bereinigung dieses Punktes würde nämlich meine Staatszugehörigkeit nach dem Kriege in hohem Maße abhängen. Aber vorläufig sind wir ja noch mitten im Krieg, sehen wir also zu, wie die in Zürich den Herrn Treßler hochleben lassen.

So wurde es wieder 3 Uhr nachts, als ich mich von Gernalkonsul v. Maurig und seiner ungemein sympathischen Gemahlin verabschiedete, denn um halb 6 Uhr mußte ich aufstehen und zur Bahn eilen, um nach Bern zu fahren. Ich schlief ein unter den Klängen des »Heil dir im Siegeskranz« und »Gott erhalte«, das die — »Italiener« mit wütender Begeisterung spielten.

Ein diplomatisches Meisterstück, an dem nur die Vorstellung peinlich berührt, daß Herrn Treßler zu Ehren auch die Volkshymne gespielt wird. Unsere Schweizer Vertretung schien aber an der Idee festzuhalten, daß Herr Treßler das Beste ist, was Österreich momentan herzugeben hat, und so fuhr er denn, um halb 7 Uhr früh, »von einem Herrn der österreichisch- ungarischen Gesandtschaft begleitet«, nach Bern. Die Herrn in Bern haben das gern. Sie scheinen viel zu tun zu haben. Die Abwicklung der Reiseangelegenheiten anderer Österreicher dauert drei Monate; für Herrn Treßler fahren sie gleich selber mit. In Bern nun »empfing« ihn wieder etwas, aber es war kein österreichischer Diplomat, sondern nur »eine Probe zu ›Weh dem, der lügt‹«, wie sichs für einen Schauspieler ziemt, der leider auch einmal den Küchenjungen und nicht immer nur den Tafelgast zu spielen hat. Selbstverständlich gibt Herr Treßler am Nachmittag »bei den Herren unserer Gesandtschaft Baron Gagern, Baron de Vaux und Baron Hennet Karten ab«, die ich als Herausforderung aufgefaßt und ihm in diplomatischer Vertretung dieser Herren als unverwendbar zurückgegeben hätte. »Mehr tot als lebendig« kommt Herr Treßler dorthin, wohin er gehört, »in die Garderobe«. Köstlich schildert er, wie schläfrig er war, wie er aber, sobald der Vorhang in die Höhe rauschte, als echtes Theaterblut, selbstredend — der Kenner kennt das. Und mit der Miene des gerissenen Kulissenkunden ergänzt er: »›Husch! Husch! die Waldfee!‹ Wie man bei alternden Naiven zu sagen pflegt.« Nun aber harrt des Unverwüstlichen die schwierigste Aufgabe.

Die Herren der Gesandtschaft hatten fünfundsiebzig Einladungen ergehen lassen. Es war eine außerordentlich glänzende Gesellschaft in den märchenhaften Räumen des Hotel Bellevue-Palace vertreten, welches sich für die — hoffentlich in absehbarer Zeit beginnenden Friedensverhandlungen vorzüglich eignen würde.

Immerhin besser als für die Fêtierung eines mittelmäßigen Schauspielers. Denn wie immer man über den Wandel der Zeiten denken mag, die sich aus solchen, welche die Tischwäsche vor den Komödianten in Sicherheit brachten und diese kaum am Gesindetisch hätten speisen lassen, in die der aristokratischen Reinhardt-Bälle verwandelt haben; ob man nun dem Vorurteil oder der Toleranz den Vorzug gibt: so muß doch wohl gesagt werden, daß die Begebenheit, die einem Herr Treßler noch schildern darf, ohne Beispiel ist:

Mir wurde die ehrenvolle Aufgabe zuteil, die Prinzessin Schönburg- Hartenstein, die Gemahlin unseres Botschafters am Vatikan, zu Tisch zu führen. Links von mir saß die schöne Gräfin Schwerin mit dem Prinzen Schönburg. Und da prangte nun ein Büfett von einer Mannigfaltigkeit, wie ich es kaum je in Friedenszeiten gesehen habe. Also so sieht es im siebenten Himmel aus?! Tausendundeine Nacht!

Das den meisten andern Österreichern unerreichbare Büfett sei Herrn Treßler gegönnt. Was die andere ehrenvolle Aufgabe betrifft, muß gesagt werden, daß ich, wenn ich Botschafter am Vatikan wäre, zur äußersten Schonung dortiger Empfindlichkeiten und überhaupt aus Rücksichten des Prestiges alles tun würde, um zu vermeiden, daß Herr Treßler meine Frau zu Tisch führt. Wenn ich aber vollends die schöne Gräfin Schwerin wäre, würde ich streng darauf achten, nie solche gesellschaftliche Verpflichtungen einzugehen, die mich zwingen könnten, die linke Tischnachbarin eines Schauspielers dritten Ranges zu sein, und geschähe es mir doch, so würde ich die Anerkennung meiner Reize durch Herrn Treßler und die Neue Freie Presse mir mit einer Entschiedenheit verbitten, daß einem Komiker, wenn er mir schon beim Dessert den Apfel reichen dürfte, doch die Lust zu Parisurteilen verginge. Die Erlebnisse des Weltkriegs sind ja nicht gerade danach angetan, die Wichtigkeit aristokratischer Herabkunft zu überschätzen, und um so weniger, als just der Weltkrieg in Fülle Beispiele einer sich selbst aufopfernden Würde geboten und die Wertlosigkeit vieler Rezensionsexemplare des »Salonblatt« dargetan hat. Beileibe nicht, weil sie sich so oder so im Krieg oder hinter ihm benommen hätten; sondern weil sie im Gegenteil nicht dem adeligen Instinkt gefolgt sind, die Mobilisierung der Ideale für den schäbigsten Zweck zu durchschauen; weil sie nie so friedensdiensttauglich waren, um einen Krieg dieser Art zu verhindern. Kein tieferer Gedanke verbindet ihren Rang mit dem Verfall der Menschheit als der Entschluß, den Reklamestrebungen bürgerlicher Wohltätigkeit ihren Namen zu spenden. Aber weil der Lebensinhalt dieser Klasse die Tradition sein sollte; weil selbst die verlorene Würde noch besser ist als die gewonnene Gemütlichkeit, so ist es immer wieder wichtig, den Herrschaften zu zeigen, daß die von ihnen abgelegten Kleider ihr besseres Teil sind. Ein Vorurteil, das vor Presse, Bank und Bühne kapituliert, täte wahrlich gut, sich wenigstens bei Tisch zu behaupten! Denn was ist das für ein Schwindel von einer Exklusivität, die zwar die Vertreter von Beruf und Arbeit ablehnt, aber die Amuseure dieser Schichten enthusiastisch annimmt, während sie an der Kunst und ihren Menschen vorbeilebt? Was ist das für eine kuriose Ordnung gesellschaftlicher Dinge, die, solange einer als deutscher Buchhandlungsgehilfe konditioniert, ihn nie in die Lage bringen kann, Prinzessinnen zu Tisch zu führen, während die Entwicklung und öffentliche Schaustellung seiner Talente, die doch ein Abstieg sein müßte, ihn mit dem Inhalt des Gothaischen Handbuchs vertraut machen kann? Die Unempfindlichkeit aristokratischer Kreise, über welche am meisten die staunen, die dort eingelassen werden, müßte denn doch von der Erwägung begrenzt sein, ob der eben erst abgeschminkte Tischnachbar auch den künstlerischen Rang einnimmt, der über jede soziale Schranke erheben mag. Daß in der Sphäre hochadeliger oder hochoffizieller Menschen die Mitglieder jenes ehrwürdigen Burgtheaters zu Hause waren, das vor dem Treßler-Zeitalter begraben wurde, Menschen, deren unerhörte Begabung zugleich die der gesellschaftlichen Vollkommenheit war, das bedarf keiner Erläuterung und keiner Entschuldigung; und wenn ein Davison oder Matkowsky, die aus Grenzenlosigkeit erschaffen waren, neben Fürstinnen getrunken hätten, so wäre die »Gesellschaft« ohne den Vorwurf einer Anomalie geblieben. Durch den Umgang mit Verwandlungskomikern beweist sie, daß ihr der Theatergeschmack in gleichem Maße abhanden gekommen ist wie der Sinn für die keineswegs wertlosen Normen ihres eigenen Faches. Wenn preußische Aristokraten sich eine Ehre daraus machen, von Herrn Reinhardt zum Handkuß zugelassen zu werden, so läßt sich der Tiefstand noch mit dem napoleonischen Ausmaß einer den Snobismus aufpeitschenden Theaterdiktatur erklären. Herrn Treßler jedoch gibts auf jeder deutschen Provinzbühne, und was mit einem von den tausend in der Schweiz getrieben wurde, ist ein Durchfall der österreichischen Gesellschaft. Jener wird, so schläfrig er ist, nicht müde, ihn schadenfroh zu beschreiben:

Leider hatte indessen der Schweizer Fahrplan plötzliche Änderungen erfahren. Da wollte man mich im Auto nach Österreich bringen, aber auch die Österreicher hatten sich gegen mich verschworen. Denn auch hier war mein Zug ausgefallen. Die österreichisch-ungarische Gesandtschaft hatte es übernommen, diese Hiobspost meiner Direktion telegraphisch mitzuteilen.

Ich schlief also vom Hotel zur Bahn, schlief in ein Halbcoupé erster Klasse hinein, schlief nach Zürich, schlief im Restaurant in Buchs, schlief auf dem Bahnsteig in Feldkirch

Bessere Reisende als Herr Treßler sind dort schon wachgerüttelt worden, und solche, die weniger gefährliche politische Geheimnisse bei sich hatten. Denn, dem Feind zu verraten, was unsere Diplomatie im Weltkrieg treibt, uns selbst zu verraten, daß wir nur durchhalten müssen, um einen Gastspieler zu bewirten — das ist in Wahrheit ein staatsgefährliches Beginnen. Aber um solch eines kümmert sich der Grenzschutz nicht und überläßt es meiner, immer nur meiner Ohnmacht, die inneren Grenzen gegen den Feind zu schützen, der sie längst überschritten hat: gegen die Zeitung, die durch ihr bloßes Dasein der Zeit, der sie dient, die Ehre geraubt hat und die Scham, es zu fühlen.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 457-461, XIX. Jahr
Wien, 10. Mai 1917.