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September 1917

Ich warne das neue Österreich

vor dem Hermann Bahr. Er ist doppelzüngig und hofft damit dem Doppeladler ein Kompliment zu machen. Er hat mehr Gesinnungen als bunte Bademäntel und da er diese nicht mehr am Lido spazieren führen kann, so macht er von jenen in dem Hinterland eines erstarkten Österreich Gebrauch, wobei ihn seine ausschweifende Phantasie, die einmal den Hofmannsthal vor Warschau gesehen hat, wohl auch nach einem österreichischen Venedig entführen mag. Wenn ich Minister des Äußern wäre, ich würde einen solchen Menschen nicht über die Calle trauen. Er ist ein treuer Sohn der Kirche und des Neuen Wiener Journals. Er ist die Zugbrücke zwischen Schlössern und Redaktionen; aber wenn ich Portier bei Harrach wäre, würde ich einem, der von Lippowitz kommt, sagen: Hier wird nicht geteilt! Ich warne das neue Österreich. Es hat im feindlichen wie im neutralen Ausland den Rückhalt etlicher anationaler Herzen, die darüber wohl unterrichtet sind, daß es von Kriegsbeginn an solche auch in Österreich gegeben hat, vor allem den ehrenwerten Lammasch, der uns der Welt schon in den Haager Konferenzen von unserer menschlichen Seite gezeigt; und seit den Tagen, da sich sämtliche deutsche Dichter und 93 deutsche Intellektuelle — mehr gibt es hoffentlich nicht — mit Schmach beluden, die Sache einer nicht von Fliegerbomben gewährleisteten Kultur nie preisgegeben hat. Dieser Mann hat nun das Unglück, in Salzburg zu leben und, wie dies die Verhältnisse einer Kleinstadt eben mit sich bringen, mit Herrn Bahr, der gleichfalls in Salzburg lebt, in Berührung zu kommen. Darüber weiß Herr Bahr etwas im Neuen Wiener Journal zu plaudern:

... Und hier bewährt sichs, daß der Stil der Mensch ist: die innere Reinheit des Sprechers, die wir diesen Sätzen anhören, bezwingt uns. Goethe ... Zelter ... Johann Heinrich Meyer ... Diese Kraft ungetrübter, wasserheller, durchsichtiger, nichts entstellender, aber auch nichts einmengender, Darstellung, deren wir längst entwöhnt sind, hat Lammasch, sein Buch vom Frieden erinnert im Ton an Clausewitzens Buch vom Kriege; und auch Moltke hatte, gar in Briefen, diesen unerlernbaren Ton einer vollkommenen Sachlichkeit, die darauf verzichten kann, irgendeine Person, sei es die des Sprechers, sei es die des Angesprochenen, zu Hilfe zu rufen, die niemals haranguiert, die der sanften Macht der Wahrheit still vertraut.

Zum Unterschied also von Herrn Bahr, der nicht nur Goethe, Zelter, Meyer, Clausewitz und Moltke einmengt, wenn er von Lammasch spricht, sondern in derselben Spalte mit diesem auch einen kleinen Berliner Literarhysteriker würdigt, und der zum Beweise der Wahrheit, daß der Stil der Mensch ist, nicht nur selbst schreibt, sondern auch die autobiographische Bemerkung beisteuert:

Eben das ließ mich jeden Satz zerhacken, in Adjektiven schwelgen und am liebsten mit Punkten, Ausrufungszeichen und Gedankenstrichen hantieren. Syntax war uns unerträglich, wir hatten unser Chaos zu lieb. Und doch waren keine fünf Jahre vergangen, als aus den Naturalisten Artisten wurden, wir schwuren auf Flaubert —

Womit Herr Bahr wohl behaupten will, daß er ein anderer Mensch geworden ist, aber unrecht täte zu meinen, er sei ein besserer Mensch geworden. Denn er hat nicht nur seinen Stil verändert, was ein wahrer Mensch ja nicht kann, nicht nur seine Urteile, was ein wahrer Mensch nicht darf, sondern auch seine früheren Urteile mit Hilfe seines späteren Stils, was ein wahrer Mensch nicht darf, aber auch nicht kann. Aber der sanften Macht der Wahrheit hat Herr Bahr stets weniger vertraut als dem schlechten Gedächtnis der Leser, die schon nicht merken würden, daß er eine heftige Antipathie gegen die Direktion des Deutschen Volkstheaters in Begeisterung verwandelt und alte Zeitungskritiken für die Buchausgabe umredigiert hat. Er hat diesem schlechten Gedächtnis seiner Leser so sehr vertraut, wie sein Gerichtszeuge Holzer — gleich ihm ein Partisan des neuen Österreich und Ritter des Franz Josef-Ordens — seinem eigenen schlechten Gedächtnis. Der Stil ist der Mensch besonders dann, wenn er umstilisiert. Was nun Lammasch anlangt, den der schmerzliche Zufall der Salzbürgerschaft in solchen Zusammenhang bringt, so rühmt ihm Herr Bahr jene Sachlichkeit nach, die es vermeidet, irgendeine Person, sei es die des Sprechers, sei es die des Angesprochenen, zu Hilfe zu rufen. Wieder im Gegensatz zu Herrn Bahr, der ihn wie folgt anspricht:

Daß ich diesen edlen, glaubensstarken

Hier müßte schon Lammasch, der ja in das neue Strafgesetz den Begriff der »berechtigten Aufwallung« einführen wollte, unterbrechen: Ihr Glaube, Sire, ist nicht der meinige! —

groß und frei gesinnten Mann hier in Salzburg habe, zuweilen in sein leuchtendes Auge blicken, seinen unverzagten Worten lauschen und mir an ihm doch wieder etwas Appetit zur Menschheit holen darf —

Was schwer sein dürfte, wenn er, wie zu hoffen, dem Professor Lammasch im Umgang mit dem Bahr vergeht —

das ist ein großes Glück für mich. Daß man ihn mir aber in Salzburg läßt, während bald schon jeder Ministerialvizesekretär einmal einen Tag Minister gewesen sein wird, das ist eine Schande für Österreich.

Herr Bahr ist zu bescheiden, um den wahren Sachverhalt zuzugeben: Lammasch, der natürlich längst Minister sein könnte, geht nicht nach Wien, weil er sich eben vom Hermann Bahr nicht trennen kann. Was ihn am Hermann Bahr fesselt, dürfte jedenfalls die Glaubensstärke sein. Was diesen zu Lammasch zieht, ist offenbar die örtliche Nähe. Daß ihm Lammasch’s geistige Entfernung vom Menschheitsdebakle imponiert, das zu glauben, würde eine Glaubensstärke voraussetzen, die ich vor den Worten des Herrn Bahr nie gehabt habe. Lammasch bekennt sich gegenüber der deutschen Siegesideologie zu einem Frieden ohne Sieger und Besiegte, erblickt nur in einem solchen »die moralischen Garantien gegen die Wiederkehr einer ähnlichen Katastrophe«, hat aus seinem Abscheu vor der großen Zeit nie ein Hehl gemacht, und Herr Bahr möchte nun behaupten, daß dies wie aller vernünftigen Menschen auch sein Gefühl sei: »Unter vier Augen gesteht man das ja längst überall ein«. Doch wenn unter vier Augen zwei leuchten und zwei zwinkern, so ergibt sich leicht ein zwar nicht strafgesetzlich, aber ethisch »unerlaubtes Verständnis«, das dem ehrlichen Mann wohl nicht schaden, aber dem unehrlichen nützen könnte, weil nun die Glaubensstarken überzeugt sein müssen, daß hier einer der wenigen guten Europäer, die von allem Anfang es mit der Menschheitswürde gehalten haben, das Wort führe.

Da ist es denn geboten, wieder einmal auf ein Büchlein hinzuweisen, das den Titel »Kriegssegen« führt, und insbesondere auf jenen darin enthaltenen denkwürdigen »Gruß an Hofmannsthal«, über den seinerzeit die Hühner in Salzburg Tränen gelacht, die Menschen aber mit ihrer Humorlosigkeit und mit ihrem schlechten Gedächtnis, auf das Herr Bahr allerwegen still vertraut, zur Tagesordnung der Generalstabsberichte übergangen sind. Ich kann mir im Ernst nicht denken, daß ein Mensch, dem dieses Schriftstück gegenwärtig ist, nicht in eine schallende Heiterkeit ausbricht, wenn er dem Bahr in Salzburg, im Himmel oder wo immer begegnet. Der Vorlesungssaal erdröhnt von Lachsalven, wenn ich zu der Stelle komme: »Nun müßt ihr aber doch bald in Warschau sein!«, und der folgende Satz: »Da gehen Sie nur gleich auf unser Konsulat und fragen nach, ob der österreichisch-ungarische Generalkonsul noch dort ist: Leopold Andrian« wird nicht mehr zu Ende gehört. Wenn aber dann gar die Stelle kommt, wo »ihr so vergnügt beisammen seid, und während draußen die Trommeln schlagen, der Poldi durchs Zimmer stapft und mit seiner heißen dunklen Stimme Baudelaire deklamiert«, und die Bitte: »vergeßt mich nicht, ich denk an euch!« — da gehts vollends drunter und drüber, etwa so wie die Leute einst elektrisiert waren, wenn der Guschelbauer den Stößer schwenkte, ehe er die Worte »weil iii an olter Drahrer bin« hervorbrachte. Ich liebe so populäre Wirkungen nicht; aber die Sache will’s. Ich lege auch den größten Wert darauf, daß die Wirkung sich fortsetzt, so daß alle, denen der »Gruß an Hofmannsthal« unbekannt oder doch entrückt ist, wenigstens jetzt, nachdem sie das hier gelesen haben, zu lachen anfangen, wenn sie dem Bahr in Salzburg oder wo immer begegnen, und gar jene, an denen er wieder den Versuch machen sollte, in ihr leuchtendes Auge zu blicken. Es bleibt dem Professor Lammasch überlassen, ob er bei solcher Gelegenheit den Schwärmer auf die Völkerrechtswidrigkeit der Tatsache aufmerksam machen will, daß während des russischen Kriegs und bis zum Einmarsch Hofmannsthals in Warschau das österreichische Konsulat amtiert und der Poldi daselbst Baudelaire deklamierend herumstapft. Aber ernstlich wird sich die Glaubensstärke des Heimgesuchten fragen, ob es denn schon so weit gekommen sei, daß man mit Herrn Bahr einen gemeinsamen Gott haben müsse. Denn es dürfte ihn ganz besonders interessieren, daß Herr Bahr, dem ich gern den Vortritt lassen würde, wenn ich bei jenem Schlager hervorgerufen werde, daß Herr Bahr also in seinem »Kriegssegen« den Kriegsbeginn, den er von der Einrückung des Herrn Hofmannsthal ins Kriegsfürsorgeamt datierte, einen »heiligen Augenblick« genannt und von der Tatsache, daß »jeder Deutsche, daheim oder im Feld, jetzt die Uniform trägt« wörtlich gesagt hat: »Das ist das ungeheure Glück dieses Augenblicks. Mög es uns Gott erhalten!« Und ausgerufen hat: »Nun sind wir alle wieder auf der einen großen deutschen Straße. Es ist der alte Weg, den schon das Nibelungenlied ging .... Glückauf, lieber Leutnant. Ich weiß, Sie sind froh, Sie fühlen das Glück, dabei zu sein. Es gibt kein größeres.« (Was Herr v. Hofmannsthal damals stillschweigend zugegeben hat.) »Und das wollen wir uns jetzt merken für alle Zeit: es gilt, dabei zu sein .... Und das hat unserem armen Geschlecht der große Gott beschert! .... Auf Wiedersehen!« Das letzte Wort dieses schon historischen Manifestes an Herrn v. Hofmannsthal ist wohl das einzige, das in Erfüllung gegangen ist in all der großen Zeit, in der sich der Glaubensstarke nur noch durch den Glauben zurechtfindet, daß unser großes Geschlecht sie dem armen Gott beschert hat.

Man hätte nun aber doch wohl annehmen müssen, daß ein Mensch, dem das passiert ist, auf Kriegsdauer, wenn nicht lebenslänglich sich versteckt halten würde. Statt dessen riskiert er auf die Straße zu gehen, in Zeitungen und Zirkeln für das junge Österreich zu werben, zwischen Piusverein und Neuem Wiener Journal zu vermitteln, und es gelingt ihm, wie nur irgendeinem Treßler, der Fürstinnen zu Tische führt, die österreichische Adelsgesellschaft auf die letzte Probe ihrer Distanzlosigkeit und geistigen Indifferenz zu stellen. Das wäre freilich das schlimmste nicht, da ja die Theatersensationen des noch zu jungen Österreich keine andern sein können als die seit siebzig Jahren gewöhnten. Da er aber Miene macht, auch die wenigen Persönlichkeiten, die in der Welt den Glauben befestigen könnten, daß sich das Österreichertum mit dem Menschentum verbinden lasse, also die Vertreter des alten Österreich, durch seine Annäherung zu kompromittieren, so sehe ich mich zu der Drohung gezwungen, daß ich bei Wiederholung des Versuches — ich warne das neue Österreich, ich warne aber auch den Hermann Bahr — zum Äußersten entschlossen bin: nämlich den »Gruß an Hofmannsthal« im Wortlaut wiederabzudrucken! Damit ihm ein für allemal der Gusto vergehe, zugleich auf die Glaubensstärke des alten und auf die Gedächtnisschwäche des neuen Österreich zu spekulieren.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 462-471, XIX. Jahr
Wien, 9. Oktober 1917.