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Mutterschutz1

März 1907

Es ist nicht anzunehmen, daß die in Paragraphenwaffen starrende Niedertracht, die den innersten Besitz an menschlicher Freiheit bedroht und den Uterus zu Abgaben zwingt, sich mit einem Mal eines Bessern besinnen, daß die staatliche Schamhaftigkeit, die den Geschlechtsverkehr lediglich für eine lästige Formalität bei der Fortpflanzung ansieht und unter allen Lebewesen bloß den Störchen eine gewisse Freizügigkeit gewährt, sich plötzlich ihrer selbst schämen werde. Aber der Nachweis, daß das Verbot der Fruchtabtreibung das größte Verbrechen ist, das ein Strafgesetz — das alte und natürlich auch das kommende — begeht, dient doch wenigstens der Aufrüttelung jener Gehirne, die immer in der besten aller Welten leben. Die Dummheit sitzt freilich so tief, daß sie solchem Weckruf mit dem Einwand begegnet: wenn die Fruchtabtreibung gestattet würde, fiele die letzte Hemmung, die sich weibliche Keuschheit heute noch auferlege. Daß doch die Keuschheit überhaupt die Neigung hat, die Keuschheit aufzugeben! Und daß es eines Strafgesetzes bedarf, sie davon zurückzuhalten! Die Furcht vor dem Landesgericht so offen als die Tugend des Weibes gepriesen zu sehen, ist erquickend. Und ebenso erquickend, die Spezialität der Jungfernschaft als ein ausschließliches Interesse der Männer deklariert zu wissen. Aber stiege denn nicht der Liebhaberwert dieses Besitzes mit der Leichtigkeit seiner Entäußerung? Wären nicht, wenn’s keine virgo mehr gibt, die wenigen, die es dann immer noch gibt, umso brünstiger umworben? Nicht weiblicher Keuschheit, die doch selbst der Idealist einmal kaput macht, sondern weiblicher Treue gelten in Wahrheit seine Besorgnisse, und seine Eifersucht ist es, die den geliebten Leib so zärtlich hütet, daß sie ihn mit der Sanktion eines Verbrechensparagraphen umgibt. Der Paragraph ist ein Präservativ gegen die Untreue, aber, unvollkommen wie jeder Paragraph, trifft er nicht jede Form der Fruchtverhinderung. Die Untreue kann sich vom Strafgesetz bange machen lassen, aber sie schrickt nicht davor zurück, sich selbst mit einer Lustverminderung zu bestrafen.

Indes, vielleicht fürchten die Herren der Schöpfung gar nicht, daß den Frauen die letzte Hemmung verloren gehen könnte — das könnte den Herren ja aus vielen Gründen und nicht zuletzt wegen der Alimente ganz recht sein —, sondern bloß daß sie selbst um das unbezahlbare Reizmittel eines Hindernisses kämen. Zu einem so feinen Erotiker hat die christliche Moral schließlich auch den stumpfsten Stier gemacht, daß sein Sexus für den Wert eines Verbotes Verständnis hat. Den Steuerzahlern könnten die Jungfern verloren gehen, die es heute dank einem Paragraphen noch gibt, bis es sie dank ihrem persönlichen Eingreifen nicht mehr gibt. Sexualparagraphen treiben auch dann zu, wenn sie das Abtreiben verbieten. Das Virginitätsideal ist aus den Wünschen jener geboren, die entjungfern wollen. Es gibt eben Leute, die gern Kalbfleisch essen und das »Schweinische« verachten. Vielleicht ließen sich hier die speisegesetzlichen Ursprünge eines religiösen Sittengesetzes nachweisen. Fleischesser sind sie darum doch alle. Die Wiener goutieren das Rindfleisch, unterscheiden es in »Vorderes« und »Hinteres«, ziehen aber in allen Fällen »Unterspicktes« vor. In dieser Geschmackszone ist es dem Weibe strenger als anderswo verboten, selbst zu essen: es gehe in seiner Bestimmung auf, »Hausmannskost« zu sein ...

Nur mir sonderbarem Schwärmer macht es noch Vergnügen, die ehrbaren Genießer dieser Stadt beim Essen zu stören. Aber wenn ich ihnen durch das Aussprechen von Bitterkeiten den Appetit verderbe, so räche ich mich bloß dafür, daß sie mir durch ihren Appetit die für das Leben unentbehrlichsten Wahrheiten verderben. Wer die lebfrische Dummheit, die in Schrift und Tat, in Worten und Blicken immer zudringlicher wird, fast als körperlichen Schmerz empfindet, hat von der Gemeinheit der Menschen nichts mehr zu fürchten: er gewinnt leicht den Mut zu solcher Vergeltung. Man muß mich entschuldigen. Aber da ich mich beschieden habe, die meisten meiner Mitmenschen als traurige Folgen einer unterlassenen Fruchtabtreibung zu betrachten, kann ich von ihnen keine Verteidigung jenes Verbotes hinnehmen, höchstens die Verwahrung dagegen, daß die Kritik als ein persönlicher Angriff gemeint sei.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 221, VIII. Jahr
Wien, 9. März 1907.


  1. Nach einem Essay in der ‚Fackel‘, dessen Autor Dr. Fritz Wittels (Avicenna) das Problem des Verbots der Fruchtabtreibmig mit wirksamem Griff gepackt hatte.