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Ethik und Strafgesetz

April 1904

»Er hat, um einem Universitätsprofessor den Gerichtsskandal zu ersparen und der gekränkten Familienmoral dennoch eine Genugtuung zu verschaffen, über jenen den Verlust des Lehramts nebst mehrjähriger Landesverweisung zu verhängen gewünscht.« Aber das ist doch nicht einmal eine Unanständigkeit?, dachten und sagten die Leser des Artikels »Erpressung«; wie sollte es eine strafbare Handlung sein? Wenn Leser wirklich immer zu lesen verständen, hätten sie auch verstanden, daß ich jene Handlung, da ich sie in dem oben zitierten Satz formulierte, selbst nicht als unanständig werte, hätten sie auch die ausdrückliche Betonung dieser Meinung dort nicht übersehen, wo ich die Möglichkeit offen lasse, eine »bessere Absicht als Gesetzeskenntnis« könne hier bestimmend gewesen sein. Zweifellos hat der Rechtsanwalt und Vater, wenn ihm nicht mehr vorzuwerfen ist als die Tat, deren er sich in einer Zuschrift an die Tagespresse selbst zieh, ethisch einwandfrei gehandelt. Und dennoch strafbar?

Wir können uns nicht daran gewöhnen, Sittlichkeit und Kriminalität, die wir so lange für siamesische Begriffszwillinge hielten, von einander getrennt zu sehen. Vom Tyrannenmörder, der die Not seiner Volksgenossen endet, bis hinunter zum Mitglied des Tierschutzvereins, das seinem Hündchen den Zwang des Maulkorbs ersparen will, erfüllen sie alle das sittliche Gebot, die Selbsthelfer — und können dennoch vor dem Strafgesetz nicht bestehen. Das macht: die schönste Entfaltung meiner persönlichen Ethik kann das materielle, leibliche, moralische Wohl meines Nebenmenschen, kann ein Rechtsgut gefährden. Das Strafgesetz ist eine soziale Schutzvorrichtung. Je kulturvoller der Staat ist, umso mehr werden sich seine Gesetze der Kontrolle sozialer Güter nähern, umso weiter werden sie sich aber auch von der Kontrolle individuellen Gemütslebens entfernen. Wenn ich mein eigenes materielles, leibliches, moralisches Wohl gefährde, wenn ich hazardiere, von der Eisenbahn abspringe, mich prostituiere, so kann nur die Beschränktheit in Volksschulzucht zurückgebliebener Gesetzgeber mich »schuldig« werden lassen. Aber gerade der Staat, der sich Vormundsrechte anmaßt, wird die familiäre Sorge bis zur Vernachlässigung sozialer Rücksichten treiben. Mit beichtväterlicher Liebe zürnt er meinen Lastern und sieht nicht, entschuldigt es vielleicht, wie meine Tugenden den Wohlstand meines Nächsten gefährden. Ich bin so »anständig«, nicht sofort zum Staatsanwalt zu laufen, wenn ich einen Hausfreund im Verdacht einer kriminellen Handlung habe; ich »begnüge mich«, selbst die Sühne zu bestimmen, die er zu leisten hat. Aber dies kulante Entwederoder, das mir mein Zartgefühl eingegeben hat, bedrückt den Schuldigen, dessen Schuld der Staat vielleicht mit einer geringern Strafe ahnden wird, als die ich ihm zuerkenne, peinigt den Unschuldigen. Vor Gericht kann er leugnen und wird vielleicht freigesprochen, vor meinem Privatrichterstuhl muß er sich schuldig bekennen, um der Gnade meines Willkürrechts sicher teilhaftig zu werden. Dies sollte, wenn hundertmal Familienrücksichten und andere sittliche Regungen mich bestimmten, statthaft sein? Nur die Grausamkeit des geltenden Gesetzes hindert uns, in einem Fall, der sämtliche Merkmale jenes Delikts trägt, von dem der Erpressungsparagraph handelt, dessen Anwendung zu wünschen. Wer getan hat, was hier beschrieben ward, ist nun einmal — das Laiengefühl behält ja Recht — kein »Erpresser«, kein »Verbrecher«. Aber sicherlich wäre er, wenn unter Aufrechthaltung seines Sinns Terminologie und Strafausmaß des Gesetzes vernünftig abgestuft würden, ein »Nötiger«, ein »Übertreter«. Kein sittlicher Makel bliebe an ihm hängen, wenn er, der aus sittlicher Erwägung in das Strafmonopol des Staates eingegriffen hat, entsprechend gestraft würde. Hunde müssen nun einmal, und gehörten sie den zartfühligsten Tierfreunden, Maulkörbe tragen!

Es mag paradox klingen, aber wo kämen wir hin, wenn alle moralischen Handlungen ungestraft blieben? Und wo kommen wir hin, da noch immer so viele unmoralische Handlungen gestraft werden? Ein Gegenstück zu der Erpressung aus Gemüt ist etwa die Gelegenheitsmacherei. Man muß es immer wieder sagen, daß sie als bloße Vermittlung oder Vermietung einer Gelegenheit für den geschlechtlichen Verkehr zwischen zwei willigen und mündigen Menschen kein wirkliches Rechtsgut verletzt, daß ihre Bestrafung eine Dummheit ist, daß eine Gerichtsverhandlung über dieses Delikt nicht die sittliche Läuterung der beteiligten Kreise, sondern höchstens das Bedauern über das zu späte Bekanntwerden einer Adresse zur Folge hat. Wird aber, wer die Kriminalität der Gelegenheitsmacherei leugnet, darum behaupten, daß sie eine ethische Handlung ist? Das wird nicht einmal der Kulturmensch tun, der Menschliches nach Menschenmaß beurteilt, sittliche Entrüstung nur in dringenden Fällen verausgabt und das Seelenheil von alten Weibern, die von den spärlichen Erwerbswegen den bequemsten wählen und einer unausrottbaren Naturnotwendigkeit eine stille Gasse öffnen, für keine soziale Frage hält. Aber nur, wenn wir diese Naturnotwendigkeit, nach dem Buchstaben eines hundertjährigen Gesetzes, an sich als ein »unerlaubtes Verständnis« ansehen, wenn wir jenen Akt, ohne den höchstwahrscheinlich kein Gesetzgeber, kein Staatsanwalt und kein Polizeikommissär auf die Welt gekommen wäre, an sich für strafwürdig halten, dürfen wir Prostitution und Gelegenheitsmacherei in den Bereich der Kriminalität verweisen. Aber auf dem Gebiete der Sexualmoral können bloß die Unmündigkeit, die freie Selbstbestimmung und die Gesundheit als Rechtsgüter in Betracht kommen, nie und nimmer die Sittlichkeit als solche; und nur für die Schädigung des andern Teils kann ich zur Verantwortung gezogen werden.

Jene Ethik aber, die Rechtsgüter nicht achtet, sondern gefährdet, könnte man die blinde Ethik nennen. Wir haben gesehen, daß sie vor allem die »Nötigung« verschuldet, gegen die das harte Gesetz anzurufen man sich scheut, die aber, wenn sie völlig straflos bleibt, das schlimmste Präjudiz der Selbsthilfe schafft. Auch im Problem der »Bestechung« spielt sie eine Rolle. Sich bestechen lassen, ist immer unsittlich. Bestechen ist nur dann unsittlich, wenn der Zweck, zu dem ich’s tue, an sich ein unsittlicher ist oder wenn er die Erlangung eines mir zwar gebührenden Vorteils bedeutet, der aber in keinem Verhältnis zu dem der Öffentlichkeit aus der Korruption erwachsenden Nachteil steht. In Österreich wäre nur der Beamte, der sich bestechen ließe, strafbar, nicht der Zeitungsmann und nicht der Parlamentarier. Nur strafbar, wer einen Beamten, nicht wer einen Zeitungsmann oder Parlamentarier zu bestechen versuchte (ich sage »versuchte«, weil an die Möglichkeit eines Gelingens namentlich bei den journalistischen Funktionären nicht zu denken ist). Gewiß ist es wünschenswert, daß ein kommendes Gesetz nicht nur die unparteiische Führung der Staatsgeschäfte als Rechtsgut schützt, sondern auch — da wir nun einmal in einem konstitutionellen Staate leben — die Freiheit der parlamentarischen Abstimmung und — angesichts einer täglich wachsenden Preßmacht — die Unverfälschtheit der öffentlichen Meinung. Aber wenn die Bestechung eines Journalisten auch strafbar würde, müßte sie nicht in jedem Fall unsittlich sein. Sie wäre und ist es nicht, wenn die Besprechung häuslicher Intimitäten nur durch Verabreichung von Schweiggeld hintanzuhalten ist. Sie wäre und ist unsittlich — und ihre Strafbarmachung ein Bedürfnis —, wenn sie die Besprechung einer gefälschten Bankbilanz verhindern soll. Der vergangene Sommer ward von Entrüstungsstürmen, die aus dem Osten kamen, erschüttert. In Ungarn — man denke nur, in Ungarn — sollte der Versuch gewagt worden sein, Abgeordnete zu bestechen. Und noch dazu mit ganz geringen Summen! Die demokratische Meute in Cis und Trans war auf den armen Grafen Szapary losgelassen, den man so frevler Geringschätzung des ungarischen Parlaments beschuldigte. Er hatte der Regierung seine Hilfe geboten, die Mäuler der Obstruktion zu stopfen. Daß er sittlich gehandelt hat, da er in höherem, patriotischem Interesse korrumpieren oder vielleicht bloß Korruption benützen wollte, ist zweifellos: nicht die Ethik, nur der Verstand des ungeschickten Vermittlers, dessen Bemühung ruchbar wurde, konnte durch den Handel kompromittiert sein. Und er hätte auch sittlich gehandelt, wenn er nach dem Gesetz strafbar gehandelt hätte, während das Zuckerkartell oder der Verwaltungsrat einer Bank, die volkswirtschaftliche Redakteure bestechen, auch bei leider unabänderlicher Straflosigkeit gegen die Moral verstoßen.

Nicht immer ist, nicht immer sollte strafbar sein, was unsittlich ist, und das Sittliche nicht immer straflos. Den Grundzug einer modernen Gesetzgebung kann nur die Entlastung individuellen Gemütslebens zu Gunsten sozialer Interessen bilden. Sicherlich würden dabei — der Staatsfreund kann beruhigt schlafen — mehr Rechtsgüter gewonnen als aufgegeben werden.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 160, VI. Jahr
Wien, 23. April 1904.