Zum Hauptinhalt springen

Die New-Yorker Filiale der Wiener Justiz

April 1904

Hat Amerika es besser als unser Kontinent, das alte? Ein Wiener Staatsanwalt ist dahin übersiedelt ... M. zog es vor, abzureisen, ehe es so weit käme, daß einmal bei richtiger Gelegenheit die Anwendung des Gesetzes beantragt wird. Indes, auch ein öffentlicher Ankläger hat ein Privatleben. Und es ist eine Impertinenz, wenn in den Mitteilungen über sein finanzielles Ungemach mit feixendem Reporterbehagen von »kostspieligen Liaisons« gesprochen wird. Ein Staatsanwalt darf sein Leben so gut wie ein anderer Staatsbürger genießen; »hat ihm doch Gott wie mir gewollt einen Anteil an diesen Tagen«. Aber er ist ein dummer Heuchler, wenn er von amtswegen mit den Sündern auch jene Leidenschaften anklagt, deren Übertreibung die Sünder zu Verbrechern gemacht hat. Er war ein Lebemann und Spieler, und keinen Kollegen sah man den Mund so voll nehmen wie ihn, wenn es galt, Genußsucht als den Urquell alles Kriminellen anzuprangern, keinen sah man so dreist in den Neigungen und Verhältnissen, in Haushalt und Geschlechtsleben des Beschuldigten herumschnüffeln. Einer der unsympathischesten, dieser übernächtige Staatsanwalt, der seinen Kater gegen freie Liebe und Hazard knurren ließ. Und dies Treiben wurde jahrelang geduldet, jahrelang aus dem unversiegenden Kleeborn behördlichen Taktes genährt. Gewiß, das Privatleben dieses »Substituten« durfte seine Vorgesetzten nicht bekümmern; aber den Sittlichkeitsexzessen war abzuwinken, die er zum Gaudium Eingeweihter auf der Tribüne aufführte, so oft ein schlichter Bankerotteur aus dem Volke angeklagt war, der sicherlich mehr Nächte in seinem Bett verbracht und weniger Spielchen gewagt hatte als sein Ankläger ... Er ist nicht mehr. Ein Staatsanwalt zog ein in das bessere Jenseits, das schon so viele Verteidiger beherbergt. Wenn Themis die Binde von den Augen nimmt, findet sie beide Plätze leer. Die Herren müssen sich erst überm Ozean »rangieren«, bevor sie sich wieder um die günstigeren Chancen bei den Geschwornen raufen können.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 160, VI. Jahr
Wien, 23. April 1904.

* * *

November 1904

Das Ansehen, dessen sich die österreichischen Einrichtungen in der ganzen zivilisierten Welt erfreuen, hat längst den Gedanken gezeitigt, in Amerika eine Filiale der österreichischen Justiz zu errichten. Leider war sie bisher nur durch Advokaten und Staatsanwälte vertreten, und oft hat sich der Mangel an österreichischen Richtern in Amerika fühlbar gemacht. Eine Verhandlung nach österreichischem Gesetz war bis heute undurchführbar. Seit einigen Tagen ist auch diesem Übelstand abgeholfen. Herr Dr. B. wird die Verteidigung führen, Staatsanwalt M. die Anklagen vertreten und als Einzelrichter der soeben eingetroffene Herr Dr. Helfer fungieren. Die Verhandlungen werden fast so gemütlich sein wie weiland die vor dem Bezirksgericht Leopoldstadt. Dies Idyll ist nun vorbei, vorbei die Tage, da die Besucher der »Budapester Orpheumgesellschaft« die Würde dieses Hauses durch einen Ton, der sie an das Bezirksgericht Leopoldstadt erinnerte, geschädigt glaubten. Wenn in diesem dunkelsten Bezirk des Wirtschaftslebens auch künftig ein Richter nicht immer gegen die Wucherer einschreiten wird, so ist doch anzunehmen, daß nicht mehr die Wucherer gegen einen Richter einschreiten werden. Lange, allzulange hatten sie sich als die höchsten Respektspersonen des Bezirksgerichtes Leopoldstadt fühlen dürfen, und der Richter war viel eilfertiger ihrem Ruf auf den Gang gefolgt, als ein Zeuge dem Ruf des Richters in den Verhandlungssaal. Welch unerwünschtes richterliches Gegenbild zu dem Typus stupider Lebensfremdheit! Nie hatte man bisher von einem Wiener Gerichtssekretär gelesen, der Jockeiklub habe über ihn die Ausweisung vom Turfplatz verhängt. Neben einer Justiz, die hinter der Binde blind ist, waltet doch noch eine, die, um zu sehen, sich die Binde amtsmißbräuchlich von den Augen reißt. Erfahrung erwerben unsere Richter durch Korruption. Gewiß ist, wie die steckbrieflich verfolgte Unschuld der österreichischen Justiz jetzt beteuert, der Fall Helfer ein »Einzelfall«. Aber seine Bedingungen sind gegeben, und das Schlimme an diesem Gerichtsskandal ist nicht die Verfehlung des »Einzelrichters«, sondern die Nachsicht einer wissenden Behörde, die einen Kridatar so lange das Richtschwert schwingen ließ, bis er es verklopfte und die Flucht ergriff. »Es kam oft vor«, meldet man jetzt gemütlich, »daß dieser Strafrichter bei einem ihm völlig fremden Industriellen oder Finanzmann im Gummiradler vorfuhr und um ein Darlehen gegen Wechsel ersuchte, das ihm in einigen Fällen auch tatsächlich gewährt wurde. In den Kreisen seiner Kollegen wird behauptet, er habe einen eigenen Agenten beschäftigt, der nur die Aufgabe hatte, festzustellen, zu welcher Stunde des Tages bekannte Finanzgrößen in ihren Bureaus allein zu sprechen seien.« Und: »In Kreisen der Advokaten wird unter anderen Geldbeschaffungsaffären des Dr. Helfer auch ein besonderer Fall erzählt, wo ein Vermittlungsagent für ihn in einer Darlehensangelegenheit bei einem Manne intervenierte, der eine dem Dr. Helfer zum Referat übergebene Strafsache anhängig hatte.« Sollten die Helfershelfer nicht strafbarer sein? Der arme Teufel, der sich im Talar lächerlich genug vorkam, weckt eher Mitleid. Man weiß zwar jetzt, daß er die vorschriftsmäßige Frage an den Angeklagten: »Sind Sie vermögend?« stets etwas zielbewußter als andere Richter gestellt hat. Aber man erinnert sich auch, wie er bei der Verkündigung der Worte: »N.N. ist schuldig ...« jedesmal verlegen geworden ist.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 169, VI. Jahr
Wien, 23. November 1904.