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Der Unterschied zwischen einem Strafrichter und einer Hure

Der Unterschied zwischen einem Strafrichter und einer Hure ist der, daß selbst nach der rigorosesten Auffassung unserer Gesellschaft der Strafrichter ein anständiger Mensch werden kann, wenn er das Buch zurückgelegt hat. Während die Private Katharina L — — Hören wir, wie unerbittlich die Gesellschaftsordnung verfährt, wenn eine Prostituierte Miene macht, im Pfuhl eines soliden Lebenswandels unterzutauchen. Die Polizei übt strenge Kontrolle und hat dort, wo der Strich in den Pfad der Tugend übergeht, Warnungstafeln aufgestellt. Die Private Katharina L. also hat einen Bräutigam und erscheint in seiner Begleitung in einem Gasthaus. »Als das Paar an einem Tisch Platz genommen hatte, teilte der Kellner in diskreter Weise dem Mädchen mit, daß er vom Wirt beauftragt sei, ihr nichts zu verabreichen, da der Wirt Freimädchen in seinem Lokale nicht dulde.« Der Wirt erklärt, daß er den Auftrag aufrecht halte. Der Bräutigam klagt wegen Ehrenbeleidigung. Der Richter heißt Schachner. Er fragt deshalb den Bräutigam, »wodurch er sich denn beleidigt erachte«. Und wendet sich nun zur Klägerin. Sie sei, bekennt sie, »früher allerdings unter sittenpolizeilicher Kontrolle gestanden, jetzt sei sie aber solid und werde bald mit dem Kläger Hochzeit feiern«. Der Richter spricht den Gastwirt frei. Dieser habe den Kläger überhaupt nicht und die Klägerin deshalb nicht beleidigt, weil er sie »nur von ihrem früheren ›Beruf‹ her kannte und bei dem in diskreter Form an seinen Kellner erteilten Auftrag nicht von der Absicht, die Klägerin zu beleidigen, geleitet war«. Das Wort »Beruf« steht in sämtlichen Gerichtssaalberichten in Anführungszeichen. Ich kann mir den Ton vorstellen, in dem dieser Richter es gesprochen hat. Ich kenne ihn von seinem gegenwärtigen Beruf.

Vgl.: Die Fackel, Nr. 232-233, IX. Jahr
Wien, 16. Oktober 1907.